Das weibliche Gesicht des KriegesAllgemein

Sabine Scholl © Mathias Bothor / photoselection

Sabine Scholl erzählt in ihrem aktuellen Roman «Die im Schatten, die im Licht» aus Frauenperspektive vom Zweiten Weltkrieg. Dabei verwandelt sie Geschichte in Literatur.

 

 

 

 

Seit 1990 publizieren Sie im Jahres- bzw. Zweijahresrhythmus, trotz Lehrverpflichtung an verschiedenen Universitäten. Wie viel Platz und welche Rolle hat das ­Schreiben in Ihrem Tagesablauf?

Sabine Scholl: Dazu kamen noch zwei Kinder. Das verändert den Tagesablauf beträchtlich. Schreiben ist für mich eine Lebensform, mit der ich mir versuche, die Welt und die Menschen zu erklären. Ich brauche das wie ein Gerüst, ohne das ich wahrscheinlich nicht zurechtkommen würde. Als die Kinder noch sehr klein waren, war das schon eine schwierige Zeit für mich. Ich konnte eher nur Notizen machen als literarisch zu schreiben. Mit dem Kindergarten und der Schule ­wurde ­alles leichter, denn ich wusste, es gibt eine gewisse Zeit, die ich für mich habe. Bis heute bin ich am ­zufriedensten und glücklichsten, wenn ich ­schreiben kann.

Sie haben lange in Berlin und Chicago gelebt, seit 2019 leben Sie wieder in Wien, zurzeit in Wien Simmering. Sind Sie dort Teil eines Künstler:innen-Netzwerks?

Nein, das gibt es leider noch nicht. Es ist auch ein Riesenbezirk, da ist es schwierig, sich zu vernetzen. Aber ich bin in einem Frauennetzwerk und ­wohne auch in einem ­Frauenwohnprojekt. Das war ein Grund, warum ich mich entschieden habe, dorthin zu gehen. Es ist sehr angenehm, wenn man neu in die Stadt kommt und sofort eine soziale Struktur hat.

In Ihrem 2013 erschienenen Roman «Wir sind die Früchte des Zorns» erzählen Sie von weiblichen Selbstvorwürfen, in Ihrem neuesten Roman «Die im Schatten, die im Licht» stehen wiederholt Frauen im ­Fokus. Warum entwerfen Sie primär weibliche Figuren?

Es hat den Grund, da der literarische ­Kanon sehr wenig Frauen abbildet, weniger Schriftstellerinnen aufnimmt und deren Per­spektive auf die Welt. Schon als Studentin habe ich damit begonnen, mich auf Autorinnen zu konzentrieren und weibliche Hauptfiguren zu entwerfen, wenn ich Literatur schreibe.
Wir sind die Früchte des Zorns ist ein Gegenentwurf zu einer traditionellen ­Familiengeschichte. In der Literatur gibt es unzählige Familiengeschichten, in ­denen Männer die Hauptfiguren sind. Frauen sind Nebenfiguren oder kommen gar nicht vor. Auch in Biografien von Männern wird es so dargestellt, als hätte dieser Mann alles ganz allein geschafft. Die weibliche Sorge wird nicht erwähnt. Ich wollte eine andere Familiengeschichte erzählen, die stark an meine eigene angelehnt ist, wenn einmal die ­Frauen die Hauptpersonen sind, also Rollen mal anders verteilt sind.
Für das Buch Die im Schatten, die im Licht hat es mich interessiert, über Frauen im Krieg zu erzählen. Man kennt ja Kriegsromane, die immer aus männlicher Perspektive erzählt werden und die den Kampf, den Konflikt und die Waffentechnik in den Vordergrund rücken. Über Jahrtausende hat es sich durchgesetzt, dass Krieg etwas Männliches ist. Es kann nicht sein, dass wir Krieg nur über männliche Berichte definieren. Ich überlegte, wie Frauen, die ich persönlich sehr gut kenne, den Krieg erlebt haben. Was hatten sie für Möglichkeiten? Ich wollte ein komplexeres Bild über diese Gegend und den Krieg in dieser Region für mich kreieren und mehr darüber wissen.

Es geht um die Region Oberösterreich und die Gegend rund um das Salzkammergut, sie verweist auf biografische Nähe. Sie sind in Grieskirchen in Oberösterreich geboren.

Ja, mich haben Orte interessiert, die ich oft besucht habe und ich wollte mehr ­erfahren. Orte, von denen ich wenig darüber ­wusste, was in der Kriegszeit oder kurz davor passiert war. Das waren zum Teil schreckliche und menschenverachtende Dinge. In den 1990er-Jahren verbrachte ich sehr viel Zeit mit meinen Kindern im Salzkammergut. Damals konnte ich mich nicht in das Thema vertiefen. Erst später bin ich draufgekommen, wie viel Belastendes über der Landschaft und den wunderbaren Villen liegt. Ich habe einen tieferen und emotionalen Bezug dazu, weil ich die Gegend eben kenne.

Ihr Narrativ setzt 1938 ein. Im Vorfeld gab es erkennbare Zeichen für den Krieg. ­Warum bleibt die Zeit davor ausgespart?

Es war eine bewusste Entscheidung, den Zeitraum zu begrenzen, weil der Romanumfang sonst doppelt wäre. Eine erzählökonomische Entscheidung also.

Sie haben neun Frauen ausgewählt, die ­Ihnen unbekannt waren. Wie war es möglich, sich diesen Figuren zu nähern?

Begonnen habe ich mit einer Figur und dachte, ich würde über sie einen ­Roman ­schreiben. Die Gräfin im Mühlviertel, die ein historisch verbürgtes Vorbild hat. Mir erschien es spannend: ­Mühlviertel, Schloss, Aristokratie und Widerstand, diese Kombi­nation. Ein Zufall war, dass ich den Ort ­kannte und Zeit dort verbracht hatte, im Schloss. Das war der erste Impuls: Ich gehe dort ins Archiv und erwartete mir sehr viel mehr Material, speziell zu dieser Frau. Dann fand ich fast nur Material über ihren Mann. Daraus ergab sich nicht die ­große Erzählung.
Die Idee, nur ihr das Buch zu widmen, war damit vom Tisch. Dann überlegte ich, dass es auch wichtig sei, sich nicht nur einer privilegierten Schicht anzunähern. Ich gehöre einer unteren (sozialen) Schicht an. Meine Großmütter sind Landarbeiterinnen gewesen. Was konnten sie machen? Was konnten sie bewirken?
Die Gräfin hatte aufgrund ihrer adeligen Herkunft Verbindungen in ganz ­Europa. Meine Großmütter hingegen hatten so gut wie gar keinen Spielraum. Daraus entwickelte sich die Idee, verschiedene Personen mit ­unterschiedlichen Haltungen gegenüber dem Nationalsozialismus darzustellen.

«Erinnern» zieht sich als roter Faden durch fast alle Romane. Ist das ein ­Lebensthema für Sie, das Erinnern?

Erinnern ist wichtig, weil es Grundvoraussetzung für mein schriftstellerisches Arbeiten ist. Mich interessiert: Wie erinnern sich andere Menschen oder werden sie überhaupt erinnert? Wie funktioniert Erinnern auf neurophysiologischer ­Ebene? Und in Bezug zur jüngeren Geschichte. Bis zirka 2015 waren Migration und Mehrkulturalität meine Themen. Das hat sich jetzt gedreht.

Gab es einen Auslöser für diesen Wendepunkt?

Es war tatsächlich die große Fluchtbewegung im Jahr 2015. In Berlin hatte ich Austausch in einem Schreibprojekt mit ­geflüchteten Schriftstellerinnen, das war ein Dichterinnen-Tandem. Diese Erfahrung hat mich auf das Thema «Frauen im Krieg» gebracht. Um deren Geschichte zu verstehen, muss ich auch meine verstehen.

In Ihrem Essayband «Lebendiges Erinnern: Wie Geschichte in Literatur verwandelt wird» erzählen Sie Geschichte mit Fiktion. Inwieweit ist es Ihnen wichtig, von intergenerationellen Übertragungen zu erzählen?

Es ist mir sehr wichtig, da ich es ja selbst mit mir trage. Als jüngerer Mensch hat man das Gefühl, man fängt alles neu an, das Alte gilt für einen nicht. Man muss ganz andere Lösungen finden.
Irgendwann fällt einem auf, dass es ­gewisse Muster gibt, über die man verfügt, die man sich aber nicht bis zu Ende ­erklären kann. Da schwingt sozusagen ­immer ­etwas mit. Das ist ein unbewusstes Erbe, das man mitbekommen hat von den vorangegangenen Generationen. Da muss noch gar nichts erzählt worden sein. Es ist auch ein körperliches Erbe. Und ich glaube, um bewusst in der Gegenwart leben zu können, muss man wissen, was mit der vorangegangenen ­Generation passiert ist. Sonst ­entstehen ­diese unlösbaren Knoten, über die man nicht hinwegkommt. Mir war es immer wichtig, Erfahrungen weiterzutragen, indem ich ­diese Geschichten erzähle.

 

Sabine Scholl: Die im Schatten, die im Licht
Weissbooks 2022
352 Seiten, 24 Eur

 

Das Interview ist im Archiv der freien Radios in voller Länge zum Nachhören, unter:
https://cba.fro.at/609361