Das Wesen des Wohlfahrtsstaatstun & lassen

Die Wirtschaftswissenschafterin Silvia Rocha-Akis arbeitet am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) in der Forschungsgruppe ­«Arbeitsmarkt, Einkommen, Soziale Sicherheit». Sie beschäftigt sich dort vor allem mit den Themen Einkommensverteilung, Sozialsysteme und Armut (Foto: © Jana Madzigon)

Erst durch Umverteilung durch den Staat kann Armut reduziert werden und Chancengleichheit erhöht: ein politisches Instrument gesellschaftlicher Solidarität. Ökonomin Silvia Rocha-Akis gibt Einblick in ihre Forschung.

Sie sind Co-Autorin der ­Studie «Umverteilung durch den Staat in Österreich». Worum geht es da?

Silvia Rocha-Akis: In unserer Studienserie wird seit den 1980er-Jahren die Umverteilung durch den Staat untersucht. Wir schauen, wie sich im Zeitverlauf die ­Einkommenssituation, die Ungleichheit und die Armut in der Bevölkerung ändern. Wir vergleichen Einkommen aus Arbeit und Kapital mit Einkommen nach öffentlichen Leistungen und Abgaben auf der Personenebene, um die Umverteilungswirkung zu bewerten. Wir untersuchen die Inanspruchnahme von öffentlichen Leistungen wie Pensionen, Arbeitslosen- und Familienleistungen sowie Bildungs- und Gesundheitsleistungen und analysieren auch die Beiträge durch Steuern und Sozialbeiträge zur Finanzierung des Wohlfahrtsstaats.

Welchen Zeitraum haben Sie untersucht?

Wir haben erstmals eine ­konsistente und repräsentative Mikrodatenbasis für eine längere Zeitperiode geschaffen, und zwar für die Jahre 2005, 2010, 2015 und 2019. Die letzte Konsumerhebung dafür wurde kurz vor dem ersten COVID-Lockdown durchgeführt. Wir wollten die Kriseneffekte draußen ­haben und uns auf die strukturellen, die längerfristigen Einkommensentwicklungen konzentrieren, denen wichtige Trends zugrunde liegen: Menschen arbeiten länger, die Frauenerwerbsquote ist gestiegen, der Anteil der Kinder gesunken etc.

Wie wird umverteilt in Österreich?

Fast die Hälfte der Markteinkommen, also Erwerbs- und Kapitaleinkommen, fließt den 20 Prozent der Bevölkerung mit den höchsten Einkommen zu und nur 1,5 Prozent gehen an das Fünftel mit den geringsten Markteinkommen. Das heißt, wir haben vor Berücksichtigung öffentlicher Leistungen und Abgaben eine sehr ungleiche Verteilung der Einkommen. Erst nach der Umverteilung durch den Staat sind die Einkommen deutlich gleichmäßiger verteilt: 30 Prozent des Einkommens gehen an das oberste und 16 Prozent an das ­unterste Fünftel.

Wie funktioniert diese Umverteilung?

In Österreich zahlen jährlich 37 Prozent der Bevölkerung aus verschiedenen Einkommensgruppen mehr Abgaben, als sie wohlfahrtsstaatliche Leistungen erhalten. Die meisten Leistungen sind abhängig vom Alter – Bildungs , Familien , Pensionsleistungen – und bewirken ein beträchtliches Ausmaß an Umverteilung zwischen Lebensphasen: Wenn ich Kinder habe, dann erfahre ich mehr Umverteilung, weil Bildung und Familienleistungen eine wichtige Rolle spielen. Wer keine Kinder hat und nicht in Pension ist, leistet typischerweise mehr Abga-ben an den Staat als an Leistungen bezogen werden. Das kann sich aber ändern: Wird man krank oder erfährt ein anderes Schicksal, kann man schnell zu den Nettoempfängern gehören. Das ist das Wesen des Wohlfahrtsstaats.
Abgesehen von den Pensionen, entfällt ein Drittel der Umverteilung auf die Nutzung von öffentlichen Sachleistungen. Diese umfassen die Gesundheits- und Bildungsleistungen, Kinderbetreuung, Wohnbauförderung und andere Leistungen wie die Schüler:innen-Freifahrt, Schulbuchaktion usw. Insgesamt tragen Sozialbeiträge direkte und indirekte Steuern zur Reduzierung der Ungleichheit um 16 Prozent, öffentliche Geldleistungen um 13 Prozent bei. Darunter sind Leistungen unabhängig vom Einkommen, wie die Familien­beihilfe oder Pflegegeld, Versicherungsleistungen wie das Arbeitslosen- oder das ­Wochengeld und Fürsorgeleistungen wie die Sozialhilfe. Letztere haben zwar nur einen geringen Umverteilungsanteil von zwei Prozent, sind aber für Betroffene entscheidend für Einkommen und ­Sicherheit. Geldleistungen für ­Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger machen nur einen kleinen Teil aus – was der öffentlichen Wahrnehmung stark widerspricht.

Wie sieht es mit der sozialen Gerechtigkeit aus?

Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen ist, dass sich die Einkommens­ungleichheit über 15 Jahre hinweg kaum verändert hat. Auch die Armutsgefährdungsquote von 14 Prozent hat sich zwischen 2005 und 2019 kaum verändert. Allerdings sind im Zeitverlauf jüngere Haushalte in der Verteilung nach unten gerutscht. Die mit Abstand niedrigsten Einkommen haben junge Haushalte mit Kindern. Im Jahr 2005 lagen sie 21 Prozent unter dem Durchschnitt, doch bis 2019 hat sich der Abstand auf 39 Prozent vergrößert.

Was sagt das über Österreichs Familienpolitik aus?

Für die schwache Einkommensentwicklung in jüngeren Haushalten ist in erster Linie das Erwerbseinkommen verantwortlich. Bei der Familienpolitik wurde stark auf Steuerbegünstigungen gesetzt, zum Beispiel beim Familienbonus. Den können gerade jüngere Haushalte mit geringeren Einkommen nicht in dem Ausmaß ausschöpfen wie Haushalte mit hohen Einkommen.

Welche Folgen hat das für Kinder?

Die Ergebnisse deuten auf ­ungleiche Bildungschancen hin. Die ­institutionelle Kinderbetreuung wird von einkommensstarken Haushalten deutlich stärker in Anspruch genommen als von einkommensschwachen. Diese haben in vielen Fällen keine Chance, einen leistbaren Kinderbetreuungsplatz zu bekommen, weil häufig jene priorisiert werden, wo beide Eltern berufstätig sind. Dabei weist die Forschung auf die zentrale ­Rolle der ersten Lebensjahre für die Entwicklung von Fähigkeiten von Kindern hin. Es besteht ein starker positiver Zusammenhang zwischen dem frühen Besuch einer vorschulischen Bildungseinrichtung und dem späteren Erfolg hinsichtlich Beschäftigung.
Wir als Gesellschaft haben die Entscheidung: Wollen wir jungen Menschen Instrumente an die Hand geben, um ihr Potenzial möglichst gut auszuschöpfen, oder wollen wir ihnen ­Steine in den Weg legen und ihnen den Zugang zu Bildung erschweren? Wenn die Rahmenbedingungen und die pädagogische Unterstützung stimmen, können Kompetenzlücken zwischen Kindern in frühen Jahren weitgehend geschlossen werden. Das betrifft aber auch die Nachmittagsbetreuung in den Pflichtschulen. Es werden viel zu wenig Ressourcen und Wissen in diesen Bereich gesteckt. Ich wundere mich immer, warum das nicht stärker thematisiert wird.

Und die älteren Menschen?

Wir werden im Schnitt immer älter. Damit gibt es zunehmend mehr ältere Arbeitnehmer. Wir brauchen mehr altersfreundliche Arbeitsplätze und bessere Gesundheitsprävention. Unternehmen müssen Wege finden, um das Potenzial älterer Mitarbeiter zu fördern und Gesundheit zu gewährleisten. Staatliche Unterstützungsangebote werden oft nicht genutzt.

Aber sollen die Älteren wirklich immer länger arbeiten?

Wenn die Rahmenbedingungen passen, arbeiten viele schon jetzt länger, gerne und freiwillig. Das ist aber nicht unbedingt das Gleiche, wie wenn jemand einen sehr harten Job hat und vielleicht früh begonnen hat zu arbeiten. Ein niedriges Einkommen ist oft mit schlechter Gesundheit und geringerer Lebenserwartung verbunden. Die Aufforderung, länger zu arbeiten, hat bei diesen Personen eine deutlich andere Wirkung im Vergleich zu Personen, die von besseren Bildungs- und Lebensbedingungen profitieren konnten.

Was sind die hemmenden Faktoren, dass nicht alle jungen Menschen am Arbeitsmarkt Fuß fassen können? Stichwort: Migration.

Das Thema Zuwanderung nimmt an Bedeutung zu. Das ist so in allen Gesellschaften, in denen es eine sinkende Anzahl junger und eine steigende Anzahl älterer Menschen gibt. Migranten sollten nicht zum Spielball von Wahlkampagnen werden. Es braucht den Zugang zu Sachleistungen wie Bildungs- und Beratungsleistungen, zum Beispiel Mentoring.
Es ist immer die Frage, wie die Mittel ausgegeben werden sollen. Wir wissen, dass Gesundheits- und Bildungsleistungen ganz stark umverteilen. Sie sind enorm wichtig für einkommensschwächere Haushalte. Da hat der Staat eine ganz wichtige Rolle. Gerade in diesen Bereichen gibt es noch einiges zu tun.

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