Nanni Balestrini sieht keine Bewegungen, die die Mühe wert wären, beschrieben zu werden
2015 feierte der italienische Schriftsteller und Künstler Nanni Balestrini seinen 80. Geburtstag und war Anfang Dezember in Wien zu Gast. Marijan Schreckeis und Nikola Staritz trafen ihn vor der Eröffnung der Ausstellung «alfabetosperimentale» zum Gespräch über aktuelle politische Bewegungen und worüber es sich zu schreiben lohnt. Es braucht neue linke Analysen und kollektive Formen der Politik, meint Nanni Balestrini im Augustin-Interview.
Foto: Nikola Staritz
Wie würdest du selbst dein Verhältnis zu den autonomen Bewegungen in Italien beschreiben – bist du Aktivist, deren Chronist oder Künstler?
Ich bin kein Politiker, ich schreibe keine politischen Bücher. Ich bin auch kein Theoretiker und sicher kein Aktivist. Ich bin Schriftsteller und ich sehe Sachen, für die ich Leidenschaften entwickle. Darüber schreibe ich und nicht, weil ich euch eine Theorie erzählen will. In den 70ern habe ich über die politischen Kämpfe geschrieben, weil mich das bewegt und fasziniert hat und ich involviert war. Es ist wie in der Liebe: Wenn du eine Passion hast, dann schreibst du über sie.
Inwiefern sind die in deinen Romanen beschriebenen politischen Kämpfe der 70er etwas Besonderes?
Es sind keine besonderen Geschichten; es geht eher darum, dass Menschen immer kämpfen müssen. Und dieser persönliche Kampf ist immer auch ein kollektiver; es wird im Kollektiv gekämpft. Und es sind die Kollektive, die mich interessieren. Die Protagonist_innen meiner Bücher haben nie Namen, sie sind keine außergewöhnlichen Individuen wie im traditionellen Roman. Sie sind stattdessen «kollektive Subjekte», ihre Geschichte steht für die von vielen. Wie zum Beispiel der Protagonist von «Vogliamo Tutto»: Ich erzähle seine individuelle Geschichte, seine Erfahrung, seine Ideen, aber gleichzeitig sind es immer kollektive Erfahrungen aus kollektiven Kämpfen. Es gab Unzählige, die das Gleiche durchgemacht haben, das gleiche Leben, die gleichen Kämpfe, die das Gleiche dachten und handelten. In dem Sinne ist mein Schreiben natürlich auch eine politische Operation.
Heute schreibst du keine Romane – gibt es keine Bewegungen mehr, über die man schreiben könnte?
Nein, da gibt es nichts. Es gibt heute keine kollektiven Kämpfe, es gibt die kollektiven Charaktere der 70er nicht mehr, es gibt keine Arbeiterklasse. Heute gibt es andere soziale Subjekte, über die man schreiben könnte, zum Beispiel die Prekarisierten oder die Migrant_innen. Aber das sind singuläre Geschichten. Jede_r hat eine eigene Geschichte, die getrennt zu jener der anderen verläuft. Auch darüber muss geschrieben werden, aber mein Interesse erweckt es nicht. Zumindest in Italien gibt es aktuell gar nichts Bewegendes, das die Mühe wert wäre, beschrieben zu werden. Aktuell schreibe ich nur Gedichte und mache Bilder.
Wie ist allgemein die politische Lage in Italien einzuschätzen – Wie kommt es, dass 50 Jahre nach der Autonomia Berlusconis, Grillos und Renzis das Sagen haben?
In Italien gibt es keine «politische Klasse» mehr. Ende der 70er Jahre gab es diese schreckliche Repression auf allen Ebenen. Tausende Menschen sind ins Gefängnis gewandert, viele von ihnen haben sich umgebracht, andere sind komplett abgestürzt, haben Heroin genommen, um zu vergessen, oder mussten fliehen. Für mich war das die organisierte Zerstörung einer ganzen Generation. Die Fähigsten und Intelligentesten einer ganzen Generation, die Teil dieser enormen Bewegung waren, wurden eliminiert. Das Italien von heute ist nun in den Händen derer, die damals der mit Abstand dümmste und reaktionärste Teil waren. Der fortschrittliche Teil wurde ausgeschlossen.
Die politische Elite in Italien ist lächerlich. Berlusconi … nichts weiter.
Warum gibt es keinen Widerstand dagegen?Auch deshalb, weil es in Europa keine Arbeiterklasse mehr gibt. Für die Prekarisierten ist es schwierig, sich zu organisieren. Sie sind komplett isoliert und individualisiert, sie haben keine kollektive Macht – Versuche dahingehend gab es ja: Occupy Wallstreet, die Indignados in Spanien usw. Diese Bewegungen haben die Leute schon zusammengebracht, aber nur kurzfristig. Wir haben aktuell ein System, das die Menschen zwar klassifiziert, aber zugleich voneinander trennt. Wir schaffen es deshalb nicht, zu kämpfen, weil wir es nicht schaffen, uns zusammenzutun.
Bei Podemos in Spanien gibt es aber lokale Komitees und eine kollektive Organisierung, es gibt eine Basis der «Indignados», der Empörten, der Prekarisierten.
Insgesamt finde ich auch das eher einen Ausdruck der Perspektivlosigkeit. Aber es stimmt, die lokale Organisation ist interessant. Die bürgerliche Demokratie wird genutzt, um den lokalen Entscheidungsspielraum zu vergrößern. Die lokale Organisation ist wohl der einzige Ansatz in der gegenwärtigen Situation, aus dem etwas wachsen kann. Kleine, lokal formierte Opposition, Situationen schaffen und diese Kämpfe dann aufeinander beziehen. Das ist das Einzige, was bleibt. Und es ist nicht einfach, aber es kann sinnvoll sein.
Und in Italien gibt es gar kein Erbe der linken Bewegungen der 70er?
Von der Autonomia bleiben vor allem die theoretischen Ansätze. Beispielsweise der Diskurs über die Arbeit: die Kritik der Arbeit, die Ablehnung der Arbeit und die Idee von der sich transformierenden Arbeit. Die Bücher von Toni Negri beispielsweise sind auch heute sehr brauchbare Gedanken, um die neuen Entwicklungen zu verstehen und zu kritisieren. In Form von Politik und Praxis ist nicht wirklich etwas übergeblieben. Dafür hat sich die Welt zu sehr verändert. Und es gibt noch keine praktischen Ideen, um dem System entgegenzutreten, das uns zur Arbeit zwingt, unser Leben mittlerweile bis zu 24 Stunden am Tag kontrolliert und ausbeutet.
Der Weg der Autonomia kann also nicht weiter gegangen werden?
Nein. Wir können nicht zurückgehen. Was damals das Richtige war, ist es heute nicht. Die Welt ist eine vollkommen andere. Wir müssen neue Formen entwickeln. Die Autonomia hat auch deshalb funktioniert, weil es damals etwas Neues war, das viele Fehler der alten Linken überwunden hat. Sie hat nicht alte Modelle des Kommunismus reproduziert, ganz anders als die kleinen, bewaffneten Gruppen in Italien damals, die glaubten, Italien sei wie Kuba. Respektable Motive, beeindruckend als politische Leidenschaft, aber keinen geeigneten Bezug zur Realität. Aus diesen Gründen: Einen Mythos zu machen aus den 70ern hat keinen Sinn. Das was damals passiert ist, lässt sich nicht wiederholen. Wenn man das nicht versteht, lebt man in den Wolken. Das ist so, wie wenn heute einer das Winterpalais nochmals stürmen will. Vergessen wir das. Die Probleme von heute erscheinen anders. Wir müssen neue Formen entwickeln. Statt über die alten Zeiten sollten wir lieber darüber reden, was wir heute tun können. Ich kann auch nicht sagen, was zu tun ist. Ich weiß es nicht. Tut mir leid, dass ich euch so desillusioniere.
Nanni Balestrini
Nanni Balestrini ist Schriftsteller und Künstler. Als solcher war er wesentlicher Protagonist der italienischen Neo-Avantgarde sowie Teil der linken politischen Bewegung der italienischen Autonomia der 70er Jahre. Diese dokumentierte er literarisch in seinen Romanen «Wir wollen alles» über die Streiks in den FIAT-Werken, «Die Unsichtbaren» über die Autonomen, «Der Verleger» oder in dem historischen Buch «Die Goldene Horde/ L’orda d’oro» über die bewaffneten Kämpfe der «bleiernen Jahre» in Italien. Sein literarisches Konzept ist so neu wie das Beschriebene: Ohne Satzzeichen lesen sich die Romane rasant und unmittelbar wie Gedankengänge. Im Zuge der brutalen Repressionswelle gegen die italienische Linke musste Balestrini 1979 flüchten und konnte erst 1985 zurückkehren.