Das „Wunder“ von St. Pöltentun & lassen

Ich wanderte nach Emmaus...

1949 wurde die internationale Emmaus-Gemeinschaft vom französischen Armenpriester Abbeé Pierre gegründet. Er war während der Zeit des Faschismus im Widerstand aktiv. In St. Pölten hat seine Idee kräftige Wurzeln geschlagen. Dass in Niederösterreichs Hauptstadt kaum wer auf der Straße übernbachten muss, ist dem Non-Profit-Unternehmen mit dem biblischen Namen zu verdanken.Nachdem Jesus Christus gekreuzigt worden war, wanderten zwei Jünger nach Emmaus. Sie waren traurig und entsetzt über den Mord an den berühmten Sozialrevolutionär, der die Schacherer aus dem Tempel getrieben, sich für die Ausgestoßenen der Gesellschaft engagiert, Frieden und Gewaltfreiheit in allen Lebensbereichen gepredigt hatte und dafür hingerichtet wurde. Als die Jünger des Weges gingen, gesellte sich zu ihnen ein Fremder und fragte, weswegen sie so hoffnungslos wären. Sie erzählten es ihm. In Emmaus angekommen, kehrten die drei Männer ein. Als der Unbekannte das Brot nahm, es brach, um es mit seinen Genossen zu teilen, meinten die, in ihm Jesus wieder zu erkennen. Deshalb ist Emmaus für die Christen ein Synonym für die Hoffnung und die Bereitschaft auch das Letzte zu teilen…

Es war einmal ein Theologe, der als Sozialarbeiter in der Strafanstalt Stein bei Krems (ca. 9 Jahre lang) arbeitete. Einigermaßen frustriert stellte er allmählich fest, dass er sich zwar für seine Schutzbefohlenen abrackern konnte wie er wollte – die (gesellschaftlichen) Grundprobleme für Haftentlassene blieben perspektivelos trist: Abgesehen von den Vorurteilen gegenüber Haftentlassenen, verhält sich die Gesellschaft denen gegenüber, die soeben eine Strafe abgesessen haben, gnadenlos. In den meisten Fällen sind für die „Ehemaligen“ während der Haftzeit Partnerschaft und sozialen Kontakte in Brüche gegangen, keine Aussicht auf Wohnung und Arbeit, und die Schulden, sind in der Zwischenzeit auch nicht weniger geworden. Nur der Weg zum nächsten Branntweiner ist verführerisch nah. Dort trifft man bald andere „Häfenbrüder“, mit denen man dann neue, untaugliche Pläne schmiedet, wie man möglichst rasch illegale Umverteilungsunternehmungen in die Tat umsetzen könnte. Und wieder rein, in die enge vergitterte Welt der Gefängnisse. „Wer einmal aus dem Blechnapf fraß…“, die Vorurteile der Gesellschaft, von wegen „unverbesserlich“, werden scheinbar täglich neu bestätigt. Und so zynisch ein Strafentlassener vom Gefängnispersonal mit „Auf Wiedersehen“ oder „bis bald“ verabschiedet wurde, wird er früher oder später tatsächlich mit einem „Hallo, so bald schon wieder da?“ im Knast begrüßt.

Im „Glasscherbenviertel“

Der Theologe Mag. Karl „Charly“ Rottenschlager erkannte, dass gegen diese Missstände weder gut gemeinte Ratschläge, noch Gebete helfen. Er wollte Taten setzen. Die Grundidee schien relativ „einfach“ zu sein: Mit Hilfe der Caritas in seiner Heimatgemeinde ein abbruchreifes Haus günstig anmieten, Haftentlassenen dort zunächst wenigstens eine Unterkunft zu bieten, und von einer „normalen“ Wohnadresse aus, lassen sich dann auch leichter Arbeitsstellen vermitteln.

Doch kaum wurde die „harmlose“ Idee in der Öffentlichkeit bekannt, gab es dagegen von Seiten der Medien und konservativen Parteien Proteste im Tenor „Schützt unsere Frauen und Kinder vor den kriminellen Elementen…“

Auch ein zweiter Versuch scheiterte am Widerstand der Bevölkerung.

Aber Rottenschlager gab nicht auf, sondern beschloss nächstes Mal „subversiv“ vorzugehen. Im „Glasscherbenviertel“ von St. Pölten, einer sogenannten „Gesindelgegend“ der Kommune, kaufte er 1982 das Gebäude einer aufgelassenen Pferdefleischhauerei, damit er dort Haftentlassene wohnen lassen konnte. Zuerst wurde das Gebäude saniert. Rottenschlager war damals noch nicht imstande Löhne zu bezahlen, sondern konnte die „Gäste“, wie fortan die Leute genannt werden sollten, die in seinem Projekt Unterkunft suchen, nur Gratislogis, Mahlzeiten und Taschengeld aus seinem eigenen Einkommen bieten.

Als nächster Schritt folgte die Umwandlung eines Geräteschuppens in eine kleine Tischlerei.

Die „Baustelle“

Und dann begann das Kleinunternehmen fast unauffällig, dafür rapide von einer kleinen Initiative zu einem großen Non-Profit-Unternehmen zu wachsen. Ein halbes Dutzend funktionierender Betriebe mit etwa 50 Millionen Schilling Jahresumsatz, mit mehreren Unterkunftshäuser beschäftigen inzwischen ein paar Dutzend fix Angestellter und Zivildiener, durch die inzwischen schon bald 2000 Gäste großteils Chancen für ein neues Leben fanden. Die Finanzierung erfolgt durch die eigenen Betriebe, (Dauer-) Spenden von etwa 4000 Vereinsmitgliedern, Arbeitsmarktförderungsmaßnahmen und andere Subventionen.

Dem Direktor von Stein sind nur sehr wenige Fälle von Haftentlassenen bekannt, die einmal in die Emmaus-Gemeinschaft entlassen, wieder rückfällig geworden wären.

Heute muss in St. Pölten und Umgebung kaum jemand mehr auf der Straße übernachten. Wenn jemand ohne Dach über dem Kopf ist, kann er sich zunächst als vorübergehende Notlösung an die Notschlafstelle wenden. Dort herrscht ein ähnlicher Betrieb wie etwa in der Wiener Meldemannstraße. „Nur“ dass die Leute dort nichts für die Unterkunft zu bezahlen haben. Wenn sich herausstellt, dass die Frage von Obdach- und Arbeitslosigkeit längerfristig nicht gelöst werden kann, gibt es die Möglichkeit in das Wohnheim Kalvarienberg zu übersiedeln. Zwar ist auch dort der Konsum von Alkohol (und Drogen) im Haus nicht gestattet, doch lebt man in Zwei- bis Vierbettzimmer, hat einen Aufenthaltsraum, Saftbeisel, und man kümmert sich um Verpflegung, Wäsche und soziale Betreuung. Nun kann man um Aufnahme in die anderen Einrichtungen der Gemeinschaft ansuchen. Das sind Wohngemeinschaften, in denen man in Einbettzimmern 1 bis 2 Jahre wohnen, und damit verbunden auch arbeiten kann, nach dem Motto „Arbeit anstatt Almosen“.

Die Betriebe sind eine Tischlerei, eine Kunsthandwerkstatt, ein Alt- und Antiquitätenbetrieb, der auch Wohnungsräumungen bzw. Übersiedlungen übernimmt, ein Bausanierungstrupp, eine Verkaufsstelle der eigenen Produkte und eine Bio-Gärtnerei.

Es werden normale Kollektivlöhne bezahlt (neuerdings bemüht man sich zusätzlich ein Prämiensystem einzuführen), für Wohnung, Verpflegung, Wäsche usw. werden je nach Einkommen zwischen 1.700,- bis 2.000,- Schilling pro Monat abgezogen.

Das Prinzip Gewaltlosigkeit

Um hier aufgenommen zu werden, müssen folgende Bedingungen erfüllt werden:

  1. Die Bereitschaft sein Leben grundlegend zu ändern, also zum Abenteuer bereit sein, sich sozuagen am eigenen Schopf aus dem Dreck zu ziehen.
  2. Sollte man Alkoholprobleme haben (ein häufiges Problem), muss man bereits zuvor einen Entzug unternommen haben. Sollte man rückfällig werden gibt es zuerst nur Ermahnungen. Spätestens beim dritten Rückfall fliegt man ohne Pardon raus, und es heißt quasi zurück zum Start ins „normale“ Wohnheim.
  3. Ein wichtiges Prinzip dieser Gemeinschaft ist das Bekenntnis zur gewaltlosen Konfliktlösung. Es klingt unglaublich, aber im Zusammenleben so vieler „schwerer“ Burschen (und zum Teil auch Frauen) gab es in den nun schon bald 20 Jahren des Bestehens der Gemeinshaft, erst einen Fall, dass die Polizei gegen einen rabiaten Mitbewohner zu Hilfe gerufen werden musste.
  4. Obwohl die Initiative einen kirchlichen Background hat, gilt die absolute Toleranz gegenüber anderen Religionen und Völkern. In dieser multikulturellen Atmosphäre gibt es zwar auch eine eigene hübsche Hauskapelle, doch die wird hauptsächlich für „normale“ Zusammenkünfte und kleine Kulturveranstaltungen genützt.

In den Wohnhäusern logieren und arbeiten etwa 60 Gäste im Alter von 17 bis 65 Jahren. Zwei Drittel von ihnen können nach einem ein- bis zweijährigen Aufenthalt wieder in die sogenannte „normale“ Arbeitswelt und Leben integriert werden.

Und überall wird gebaut, geplant und weiter entwickelt. Eine Fülle von Ideen für weitere Vorhaben besteht. Ein Großteil davon wird sicher auch in die Tat umgesetzt.

Vor kurzer Zeit wurde etwa ein ehemaliges Bordell in Türnitz, Bezirk Lilienfeld, gekauft, in dem nach der Sanierung des Gebäudes, nun ebenfalls ein Wohnheim und Tischlerei errichtet wird; die Biogärnterei „City-Farm“ wird erweitert. Auch hier ist ein Wohnhaus geplant. Doch hier sind für psychisch Behinderte Dauerwohn- und Arbeitsplätze vorgesehen.

Emmaus international…

Als Mag. Rottenschlager „sein“ Projekt begann, hatte er zwar schon von der internationalen Emmaus-Gemeinschaft gehört, doch die ist zwar ähnlich, dennoch anders, wenn auch nicht weniger beachtenswert.

Gegründet wurde die internationale Emmaus-Gemeinschaft 1949 vom französischen Armenpriester Abbeé Pierre. Er war während der Zeit des Faschismus im Widerstand aktiv. Als Parteiloser wurde er ins französische Parlament gewählt. Deshalb stellte man ihm auch eine Villa am Stadtrand von Paris als Wohnung zur Verfügung. Er empfand dies als unnütze Vergeudung und ließ daher Obdachlose unter „seinem“ Dach wohnen. Aber das allein löste noch keine Probleme. Daher hatte er die Idee, dass seine Mitbewohner Altpapier sammeln sollten, um es an die Papier verarbeitende Industrie zu verkaufen. Zuvor sondierten die Leute Briefumschläge und Postkarten aus. Von denen lösten sie die Marken ab und verkauften sie an Philatelisten weiter. Schon im ersten Jahr wurde daraus ein Erlös von damals ca. 40.000,- Francs erwirtschaftet.

Nun ging man dazu über auch Kleider, alte Möbel und andere Altwaren zu sammeln und wieder zu verwerten. Die Initiative wurde daher auch bald „Lumpensammler Gottes“ genannt, die inzwischen in etwa 40 Ländern ca. 400 Zweigstellen hat.

Die St. Pöltner Gruppe ist jedoch „nur“ ein assoziiertes Mitglied der Internationalen Emmaus-Gemeinschaft. Während die internationale Gemeinschaft den Hilfesuchenden eine dauernde Arbeit und Bleibe zu geben versucht, sehen sich die St. Pöltner nur als hilfreiche „Zwischenstation“ im weiteren Lebensplan ihrer Gäste. Und im Unterschied zu den „Internationalisten“, die jede öffentliche Unterstützung strikt ablehnen, nehmen die St. Pöltner sehr wohl öffentliche Förderungen an, um das dichte Netz an sozialen Maßnahmen auch wirklich und wirksam finanzieren zu können. Ungeachtet dieser Unterschiede gibt es zwischen der Internationalen und St. Pöltner Gemeinschaft eine produktive Kooperation.

Hilfe über die Grenzen

Im vergangenen Sommer luden die St. Pöltner Emmaus-Altwarenhändler ihre ausländischen Kollegen zu einem gemeinsamen Sonderflohmarkt ein. Dabei wurden 600.000,- Schilling Reingewinn verdient. Dieses Geld wurde an Kinderhilfsprojekte in Osteuropa weitergeleitet.

Außerdem bildeten die fest angestellten Mitarbeiter der Initiative eine freiwillige Selbstbesteuerungsgruppe, wo die Mitglieder regelmäßig monatlich Beträge von 50.- bis 1.000,- Schilling einbezahlen. Wie bei einem Sparverein treffen sich fallweise die Mitwirkenden der Gruppe, um über die Verwendung der Gelder zu bestimmen. Und so gehen jedesmal beachtliche Summen an konkrete Projekte in der 3. Welt oder Osteuropa. Zuletzt waren eine „Friedensschule“ (für Kinder von Prostituierten in Brasilien), ein Flüchtlingslager zwischen Liberia und Elfenbeinküste oder ein Frauenhaus auf den Philippinen Spendenempfänger. Insgesamt wurden bereits meh als eineinhalb Millionen Schilling für diverse Solidaritätsprojekte von dieser Selbstbesteuerungsgruppe aufgebracht.

Charly Rottenschlager: „Ich wünsche uns allen jene Liebe, die niemanden mehr ausgrenzt. Dass Feindesliebe keine Utopie ist, durfte ich ausgerechnet unter den Aussätzigen unserer Tage verstehen lernen. Ich wohne seit Beginn unseres Projektes selbst in einem Kabinett im Wohnhaus Herzogenburgerstraße, deren Insassen gemeinsam schon über fast 2000 Jahre Gefängniserfahrung hinter sich hatten. Trotzdem musste die Polizei bisher kaum intervenieren, um hausinterne Konflikte zu regeln…“


Literatur:

„Emmaus – Oase in einer Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung“, Hg. Hans Marsam und Karl Rottenschlager, 248,- öS

„5 Jahre Emmaus Altwaren“ von Hans Marsam, 198,- öS

„Gewalt endet, wo Liebe beginnt. Ausgestoßene in heilender Gemeinschaft“, Hg. Karl Rottenschlager, 348,- öS

„Obdachlos – Hoffnungslos“ von Hans Marsam, 198,- öS

„Heimat Emmaus“, Hg. Hans Marsam, 198,- öS

Video „Bedingte Hoffnung“, Filmdokuentation von Rudolf Vajda, 25 Minuten, 498,- öS.

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