Das Zwischenreich: neue soziale Riskentun & lassen

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Frau S. schlägt sich als Ich-AG und Armutsunternehmerin mit Gebrauchsgrafiken durch den Alltag. Ihr dreijähriger Sohn leidet seit seiner Geburt an schwerem Asthma. Er braucht viel Zeit. Der Lohn ihrer Arbeit ist unregelmäßig und gering. Loch auf Loch zu. So muss sie rechnen, einmal die Miete, einmal das Heizen, einmal das Telefon. Immer gibt es eine offene Rechnung. Kaputt werden darf nichts: keine Boiler und keine Waschmaschine. Mit dem Einkommen gibt es kein Auskommen.Vom vertraglosen Zustand zwischen Ärztekammer und der SVA waren viele neue Selbständige und Ich-AGs betroffenen, deren finanzielle Situation äußerst prekär ist. 79.000 Menschen in Selbständigen-Haushalten leben in Einkommensarmut, davon sind 24.000 von manifester Armut betroffen, das heißt sie leben unter bedrückenden Lebensumständen wie feuchte, schimmlige Wohnung, großen Stress ohne Erholung, können ihre Wohnung nicht angemessen warm halten, geschweige denn unerwartete Ausgaben tätigen. Sie leben im Zwischenreich zwischen Erwerbsarbeit und Erwerbslosigkeit, in Armut trotz Arbeit und in Armut ohne Arbeit; einmal einen Job, ein Projekt, ein Praktikum, dann wieder selbständig. So werde ich Auftraggeber für mich selbst als neuer Elendsunternehmer und Scheinselbständiger darf ich das angebliche Abenteuer der Freiheit als wirklichen Zwang in die Unfreiheit erfahren. Die unfreiwilligen Ich-AGs haben alle Nachteile eines Unternehmers, ohne seine Vorteile genießen zu dürfen. Die Freiheitsfrage liegt im Begriff prekär. Unsicherheit ist eine zu schwache Übersetzung. Eigentlich heißt precarius: durch Bitten erlangt, aus Gnade bekommen, auf Widerruf gewährt. Das beschreibt ein abhängiges und freiheitsbeschränkendes Verhältnis.

Das schlägt sich auch in nicht-existenzsichernden Sozialleistungen bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und in der Pension nieder. Wer sein Leben lang in prekären Jobs arbeitet, wird keine existenzsichernde Pension zusammenbekommen, das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe sind so gering, dass man im Falle von Jobverlust davon keinen Tag überleben kann.

Diese Gruppe von neuen Elendsunternehmern findet weder in der Wirtschaftskammer noch in der Arbeiterkammer eine ausreichende Vertretung. Sie fallen durch die Netze der klassischen Sozialpartner-Interessen. Die neuen sozialen Risken (new social risks) liegen quer zu den klassischen Risken sozialstaatlicher Sicherungssysteme: neue Selbständige, prekäre Beschäftigung, Lebensrisiko Pflege, Behinderungen und Migration. Auf diese neuen sozialen Herausforderungen braucht es zukünftig neue soziale Antworten.

Die polemisch und unsachlich geführte Debatte um die Mindestsicherung ist ein Beispiel dafür, wie engstirnig Teile der politischen Eliten auf die neuen sozialen Risken reagieren. Zukünftig werden Phasen der Erwerbslosigkeit die Biographien der meisten ArbeitnehmerInnen prägen. Lückenlose Erwerbsbiographien samt lebenslangen 40-Stunden-Anstellungen dürften die Ausnahme, nicht die Regel darstellen. Auf diese Herausforderungen muss sich auch das Sozialsystem einstellen. Ein leistungsfähiges unteres soziales Netz ist eine notwendige Antwort gegen Armut in einer sich verändernden Arbeitswelt, die nicht mehr dem Arbeitnehmer-Bild der 1960er und 1970er Jahre entspricht.

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