Demokratisieren wir die Demokratie!tun & lassen

Losdemokratie – «Zufallsmenschen» ohne korrupte Netzwerke (Illustration: Bernd Pegritz)

Zufall, Los und Mitbestimmung. Die repräsentative Demokratie ist nicht in der Lage, angemessen auf die Unpässlichkeit des Planeten zu reagieren. Derweil bringen die schulstreikenden 15-Jährigen ihren Eltern einen noch wenig gebrauchten Begriff bei: die aleatorische Demokratie.

Du kennst diese «Gesetzmäßigkeit»: Dinge, die man nicht braucht, liegen überall störend ­herum. Wenn man sie aber braucht, gibt es sie nicht. Ähnliches lässt sich über die direktdemokratischen Bürger:innenräte sagen: Wenn man sie als Plattform der Unzufriedenen braucht, sind sie gerade aufgelöst. Oder sie sind infolge ihrer Abhängigkeit von Regierungen unbrauchbar. Ich erlaube mir, eure Aufmerksamkeit auf eine «eigene Sache» zu richten. Mich macht zum Beispiel der Fluglärm zornig – ein Problem, das jede:r kennt. Mir geht ein «Bürger:innenrat Flugverkehr» ab. Ich könnte meinen Protest in einen solchen Rat einbringen und sicher sein, dass auch radikale Positionen als impulsgebend geschätzt werden – ich rede von der Forderung, den Flugverkehr zu halbieren, um ihn klimatauglicher (neudeutsch: enkelgerecht) zu gestalten.
Die meisten Politiker:innen halten diese Idee für nicht gesellschaftsfähig. Wirtschaftswachstum gilt als Staatsräson. Eine Auseinandersetzung mit der vierten Piste gibt es nur deshalb nicht, weil der Flughafen Wien-Schwechat erst über zwei Pisten verfügt. Über meine Favoritener Wohnung hinweg dröhnen Flugzeuge in Spitzenzeiten im 50-Sekunden-Intervall Richtung Airport. Sie tun das gefühlte 200 ­Meter über meinem Kopfweh. Oder gefühlte 200 Meter über unserer gemeinschaftlichen Dachterrasse, wo neulich, bei einem Fest, eine Schauspielerin ihre Lesung ständig unterbrechen musste. Die aerodynamischen Kero­sinspritzanlagen nullifizieren den Erholungswert der Aussichtsterrasse. Jeder naturbelassene, unberechenbare Hochschwab-Gewitterdonner ist reinste Poesie gegenüber dem Brutalo-Rhythmus des künstlichen Donner-Kontinuums unter dem veruntreuten Himmel.

Direkte Demokratie

Zehntausende Menschen leiden an meiner Seite. Dies ist eine Quantität, die speziell die aus den Fluglärmschneisen stammenden Abgeordneten als Auftrag zum Handeln wahrnehmen sollten. Irgendeine Kompromisslösung würde sich finden lassen. Der Druck des Staates, der Fluggesellschaften, der Flugzeugkonzerne, der Tourismusindustrie und des Militärressorts auf die Kräfte des Fliegens lässt an eine Parallelorganisation denken, deren Zentrum der Bürger:innenrat ist. Oder eben der Klimarat, weil die Relevanz des Flugverkehrs für die Klimarettung evident ist. Eine Bewegung für einen tatsächlich unabhängigen Bürger:innenkonvent müsste dafür kämpfen, dass der Staat sich zumindest verpflichtet, seine Ablehnung eines Anliegens des Bürger:innenrates zu erläutern. Manche Rechtsexpert:innen sind der Meinung, eine solche Implantierung eines direktdemokratischen Elements in die repräsentative Demokratie (in die Parteienwirtschaft, um einen populäreren Ausdruck zu verwenden) bräuchte eine Änderung der Verfassung. Es stellt sich jedoch die Frage, ob nicht schon die bestehenden Verfassungen den Auftrag enthalten, die Gesellschaft mit Demokratie zu durchfluten. «Österreich ist eine demokratische Republik, in der das Recht vom Volk ausgeht: Die österreichischen Staatsbürger:innen bestimmen, wer die politische Macht ausübt.» An dieser Vision ist nur eines zu ändern: «Österreichische Staatsbürger:innen» ist durch «alle, die im Land leben» zu ersetzen.

Würfel und Wagnis

Die Politikwissenschaft staunt über die Vitalität der inzwischen global vernetzten modernen Rätebewegung, die weder Stab noch Hauptquartier kennt. Rätebewegung? War da nicht was? Der Ausdruck klingt an den Begriff Räterepublik an, dem immer noch der Ekel auf alles Bolschewistische anhaftet und den die Rechtsblöcke zur Stimmungsmache gegen aleatorische Demokratieexperimente missbrauchen. Mein Beispiel «in eigener Sache» zeigt, dass es für die wirtschaftlichen Eliten und die mit ihnen verflochtenen Parteiapparate ein Wagnis ist, der Zivilgesellschaft die Plattform eines Bürger:innenrates in die Hände zu legen. Ein antagonistischeres Gegenüber als Flugverkehr vs. Gemeinschaftsinteresse ist kaum vorstellbar. Fluggesellschaften sind, obwohl Rekordumweltverschmutzer, von den Staaten hoch subventioniert, die Fußballprofis brauchen weiterhin nicht mit dem vereinseigenen Spieler:innenbus nach München zu fahren und in Wien ist die dritte Piste des Flughafens noch immer nicht abgesagt.
Der Tag ist nah, an dem man den Begriff des Aleatorischen nicht mehr erklären muss. Er geht zurück auf das lateinische Wort «alea», das sowohl den Würfel als auch das Wagnis meint. Angeknüpft wird dabei an das Würfel- und Losverfahren in der klassischen Athener Demokratie. Zeitgenössische Losverfahren, die die Bürger:innen nach dem Zufallsprinzip in die Räte katapultieren, verwandeln jene über Nacht zu Kümmerinnen und Kümmerern ohne Namen. Die Dramaturgie der Parallelaktion, die sich neben der lausigen Performance der Parteiendemokratie entfaltet, sieht vor, 10.000 Menschen per Zufallsprinzip zur Mitarbeit im Klimarat einzuladen; 1.000 bewerben sich, daraus bestimmt das Los die 100 Teilnehmer:innen des Klimarats. Die Zahlen sind erfunden. Sie ändern sich von Stadt zu Stadt. Die Methoden, dem Konvent eine soziale Zusammensetzung zu verpassen, die der realen Bevölkerungsstruktur entspricht, sind kopier- und abrufbar. Wo der Migrant:innenanteil fünfzig Prozent beträgt, kann es nicht sein, dass es im Klimarat nur vier Prozent Ausländer:innen gibt.

Die Rechten und das Los-Experiment

Im Rechts-­Lager grassiert die Häme über die «Zufälligen». Scheinbar ist das Los bzw. das Losverfahren zur ­Bestellung der Mitglieder des Klimarats das neue rote Tuch für die (Spieß-)Bürgerlichen. Weltweit sind inzwischen ­Erfahrungen über das Losverfahren abrufbar, ­sodass man sich wundern muss, mit welcher Vehe­menz das Prinzip Zufall dämonisiert wird. Es sei untrag­bar, ­Zufallsmenschen die Verwaltung der Repu­blik zu überlassen, wetterte der Klimakleberhasser ­Konstantin Kuhle, Bundestagsabgeordneter der FDP. «Sie können nicht Leute auslosen und mit der Macht ausstatten, über das Wohl und Weh des ganzen Landes zu entscheiden!» Zur Wahl der Volksvertreter:innen in Bundes- und Landesparlamente und in die Rathäuser gäbe es keine Alternative.
Vielleicht ist dem Mann zugetragen worden, dass Klimaratsbeschlüsse in der Regel radikaler und progressiver sind als das, was die Politiker:innen der entsprechenden Länder ihren Untertanen zugestehen. Das wäre immerhin ein nachvollziehbarer Grund für die Pauschalablehnung des demokratiepolitischen Impulses der Räte. Vielleicht ist dem Mann auch zuge­tragen worden, dass der Zufall es wollte, dass der letztlich durch die Gelbwestenbewegung (2018) angeregte französische Klimarat zu einem geradezu revolutionären Manifest führte. Aus der Liste der Begehrlichkeiten des französischen Volkes, solidarisch vertreten durch 150 Menschen, die als Klimaratsdebütant:innen einander erst kennenlernen mussten: Klimaschutzmaßnahmen sind durch eine Klimasteuer der Reichen zu finanzieren; Kurzstreckenflüge sind zu verbieten; in Frankreich darf kein neuer Flughafen errichtet werden; Autowerbungen sind zu verbieten etc. Das Beste, was man über diesen Missionar des Betonismus sagen kann, ist, dass er seine Ideologie nicht mit grünen Phrasen verklärt.

Die Zementoligarchie

Laut Rechtswissenschaftler und Rechtsanwalt Josef Unterweger erfüllen Porr, Strabag und Asfinag die Kriterien der Oligarchie, was sich auch darin äußert, dass die Planung des ultimativen Autobahnausbaus de facto den drei Baukonzernen anheimgestellt ist. Die Drecksarbeit macht der Staat. Er kümmert sich um die Enteignung der Bauern und Bäuerinnen, deren Felder die Freiheit der Trassierung stören. Zur Herausforderung einer solchen Oligarchie braucht es eine kapitalismuskritische Massenbewegung, doch die ist weit und breit unsichtbar.
Unterweger schreibt in seinem Text Österreich – eine Oligarchie von Baukonzernen mit angeschlossener Republik im Jahr 2009: «Bereits in den 1980er-Jahren stellte Günther Nenning, der österreichische Journalist, fest, in seinem Land würden die Interessen der Baukonzerne dominieren. Seit dieser Feststellung ­haben Konzerne ihre dominante Stellung vertieft, verfeinert und zur Oligarchie ausgebaut. Die Oligarchie besteht aus Konzernen des Hoch- und Tiefbaus und der baustofferzeugenden Industrie samt ihren Tochterunternehmungen insbesondre im Bereich der Immobilienverwertung sowie Banken, die diese Baukonzerne finanzieren […] Diese Oligarchie ist in der Lage, Gesetze nach ihrem Geschmack zu erstellen und beschließen zu lassen.» Es ist aber nicht jene Sorte von Geschmack, über die das Sprichwort sagt, es ließe sich darüber nicht streiten.

Der Mollner Erdgaskrimi

Regierungsparteien schaffen Posten, die mit Personen der Bau-Oligarchie besetzt werden, und die privaten Profiteur:innen erfinden Managementbereiche und stellen Ex-Politiker:innen zu sagenhaften Gehältern ein, damit diese nicht auf die Idee kommen, auszuplaudern, wie sehr sich das Kapital die Politik dienlich gemacht hat. Österreich zählt zu den Ländern mit bescheidener Protestkultur, was impliziert, dass die kritischen, zu radikalen Veränderungen bereiten Ratsmitglieder, entsprechend ihrer Bedeutung in der Gesamtgesellschaft, zunächst minoritär sein werden. Um das Verhältnis zwischen den außerparlamentarischen Räten und den ­Gremien des repräsentativen Systems zu definieren, wird oft von «gleicher Augenhöhe» geredet. Auch als Vision gemeint ist dieser Begriff fragwürdig.
Aktuell herrscht in Oberösterreich Handlungsbedarf. Die Landesregierung mutet der Kalkalpen-Nationalpark-Gemeinde Molln und überhaupt ­allen Freund:innen der Berge zu, hinzunehmen, dass ein sensibles Gebiet mit intakten Ökoräumen unter dem Sensengebirge sich in ein Erdgasfeld verwandelt. Ein australischer Energiekonzern (ADX Energy) nützt die Angst vor der Abhängigkeit vom russischen Gas aus. Und schon grassiert das Erdgasfieber. Zell am Moos wird genannt, Straßwalchen am Attersee und, und, und. Plötzlich wissen viele Mollner:innen, ­warum sie so sehr gegen den Ukrainekrieg sind. Denn wenn der Krieg aus ist, sagen sie, wird der Gaspreis ­wieder fallen, und die Australier:innen würde das austriakische Gas nicht mehr interessieren. Aber das ist ­Spekulation. Eher sollten sich alle betroffenen ­Gemeinden anstrengen, einem «Gesellschaftskonvent Fossile Energie» auf die Sprünge zu helfen.
Frage an die Politikwissenschaftlerin ­Martina Handler – sie war Moderatorin des im Vorjahr an sechs Wochenenden tagenden österreichischen Klimarates: Österreichische Umweltaktivist:innen sind etwas enttäuscht über die «Bescheidenheit» des öster­reichischen Klimarates. Sie erwarteten, dass am Ende der Sitzungen ganz konkrete Forderungen an die Regie­rung auf dem Tisch lägen, wie etwa in Frankreich, wo der Bürger:innenrat ein Verbot der Autowerbung und der Kurzstreckenflüge urgierte. Ist diese Rigorosität nicht dem Ernst der Lage angemessener? Handler: «Es liegen auch vom österreichischen Klimarat viele konkrete Forderungen vor. Zum Beispiel eine stufenweise steigende CO2-Bepreisung von beachtlichen 240 Euro pro Tonne CO2 bis 2030. Der französische Klimarat ist tatsächlich ein gutes Beispiel für Ergebnisse mit weitreichenden Maßnahmen. Leider wurde fast nichts davon umgesetzt. Das ruiniert den Ruf dieses partizipativen Modells. Ein gutes Beispiel ist aber Irland. Dort wurden die Ergebnisse der erfolgreichen Bürger:innen­räte zu den sehr kontroversen Themen gleichgeschlechtliche Ehe und Schwangerschaftsabbruch nach parlamentarischer Diskussion und Volksabstimmung umgesetzt. Auch die Ergebnisse des Klima­rates wurden in Irland weitgehend beschlossen. In Irland ­haben die im Parlament vertretenen Parteien die Legitimität solcher ­Formate der direkten Demokratie anerkannt. Das ist in Österreich leider nicht bei allen Parteien der Fall. Es braucht auch einen radikalen Aktivismus, der die Miss­stände und die dafür Verantwortlichen klar benennt. Wie etwa die Letzte Generation, Fridays4Future etc.»
Frage: Kann man also sagen, die Idee des Bür­ger:innen­konvents in Österreich sei gescheitert? Handler: «Nein! Die Teilnehmer:innen waren bereit, auch sehr weitreichende Veränderungen mitzutragen. Sie fingen an, andere Standpunkte durchzudenken und erarbeiteten Lösungen, die möglichst viele ­unterschiedliche Interessen berücksichtigen. Es ­sollte in Zukunft so sein, dass das Procedere nach Ende des Bürger:innenrats schon vorab definiert und von allen Parteien akzeptiert ist. Ich rede von verpflichtender Diskussion in parlamentarischen Ausschüssen, von verpflichtenden Berichten, von der Begründungpflicht bei Nichtumsetzung.»

Molln muss Mallorca werden

Eine neuartige Arbeits­teilung zwischen Rätebewegung und Klimaaktivismus nimmt Form an. In den deutschen Streikkämpfen zu Beginn dieses Jahres öffneten sich die fortschrittlichsten Branchengewerkschaften zur Letzten Gene­ration hin, wie auch umgekehrt. Es kam zu koordinierten Aktionen. Die Letzte Generation, die für viele aktiv gewordene Menschen die Avantgarde der Ökologiebewegung darstellt, ist dabei, die Idee der Bürger:innenräte zu revolutionieren. Das fängt schon mit der Bezeichnung an. Das als Klimakleber:innen bewunderte und als Klimaterrorist:innen ­denunzierte Sabotage-Personal redet von «­Gesellschaftsräten», in bewusster Abgrenzung zu konformistischen ­Gremien, die dem Staat helfen, sich «klimaneutral» zu gerieren. Aus dem Statement der Letzten Generation, deutscher Zweig: «Die bisherige Politik der Bundesregierung hat gezeigt, dass sie keine Wege findet, uns aus dem Pfad der Zerstörung herauszuführen. Sie hat auch gezeigt, dass sie unseren ersten Forderungen nach einfachsten Sicherheitsmaßnahmen, die mehrheitsfähig sind, nicht nachkommt. Die repräsentative Demokratie ist anscheinend nicht in der Lage, angemessen auf diese ­Krise zu reagieren. Daher müssen es die Bürger:innen selbst in die Hand nehmen. Der Gesellschaftsrat ist das beste Konzept, einen effektiven Weg aus der ­Krise zu finden, der zugleich gerecht und demokratisch ist. Die Forderung nach einer demokratischen ­Ergänzung zur ­repräsentativen Demokratie ist nicht antidemokratisch. Mit der Forderung nach einem Gesellschaftsrat wird die repräsentative Demokratie nicht abgeschafft, sondern so ergänzt, dass sie wieder handlungsfähig wird. […] Die Parlamentarier:innen entscheiden, wie sie mit den im Gesellschaftsrat erarbeiteten Maßnahmen umgehen. Es muss begründet werden, warum eine Maßnahme abgelehnt oder angenommen ­wurde.» Das Parlament solle sich verpflichten, bereits im Vorfeld selbst Maßnahmen umzusetzen, die die Zustimmung des Konvents fanden.
Bei einem Klima-Bürger:innenrat in Mallorca ­haben sich die Inselregierung und der Stadtrat dazu verpflichtet, alle Vorschläge umzusetzen, die im Rat eine Mehrheit von mindestens 90 Prozent erhielten. Wer sich mit der Attitüde der Verfassungsschützerin über die Ausschaltung der Normen der parlamentarischen Demokratie aufregt, möge sich in Mallorca kundig machen, wie eine Insel unter der vermeintlichen Diktatur der klimapolitischen Korrektheit leidet. Leider kann eine Segelschiffreise dorthin mehrere Tage dauern.

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