Denkmaschinen mit TentakelnArtistin

Science-Fiction-Literatur bringt Spaß und Spannung. Aber sie hilft uns auch, Ungedachtes denkbar zu machen. Dass sie gerade wieder so in ist, ist kein Zufall. Eine Reise durch Buchempfehlungen und zeitgenössische Philosophie. Text: Julia Grillmayr

Hier geht es um Science-Fiction. Jetzt denken vermutlich alle an tentakuläre Außerirdische, an zeitreisenbedingte Generationenkonflikte und an polierte Raumschiffe, die fürchterlich ruckeln, weil die feindliche Kriegsflotte das Energieschild zerschossen hat. Und genau so ist es. Das sind Motive und Geschichten, die das Genre ausmachen und die Spaß machen. Allerdings soll es hier um Fiktionen gehen, die noch etwas mehr wollen; nämlich «Denk- und Kunstmaschine» sein – so bezeichnet Dietmar Dath die Science-Fiction in seinem neuen Sachbuch ­Niegeschichte. Der SF-Autor, Journalist und Übersetzer schreibt dort: «Man kann Science-Fiction erstens als Kunst genießen, und man kann mit ihr zweitens Dinge und Verhältnisse denken, die ohne sie ungedacht bleiben müssten. »
SF-Literatur, die solche «Denk- und Kunstmaschinen» gebaut hat, will ich hier empfehlen. Bücher zum Beispiel, in denen ich die Tentakulären besser kennenlernen kann, anstatt dass sie nur abscheuliches Dekor für mannhafte Heldenhaftigkeit sind; oder in denen interstellare Reisen nicht allein Aufbruch in unbekannte Weiten sind, sondern erlauben, auf das planetare Hier und Jetzt zu blicken, und deutlich machen, was Ökologie ist.

Welterklärung.

Wir sind ständig dabei, uns selbst die Welt zu erklären, und Fiktionen – etwa literarische – helfen uns dabei maßgeblich. Daher macht es einen Unterschied, welche Art von Fiktionen wir kultivieren. «Es ist von Gewicht, welche Geschichten Welten machen und welche Welten Geschichten machen», schreibt Donna Haraway in ihrem Buch Staying with the Trouble, das 2018 in der Übersetzung von Karin Harrasser als Unruhig bleiben erschien. Darin legt die einflussreiche feministische Wissenschaftshistorikerin, wie in all ihren Texten seit dem legendären ­Cyborg-Manifesto (1985), ein besonderes Augenmerk auf die Science-Fiction.
Haraway hört genau hin, was die Protagonist_innen von SF-Büchern zu sagen haben, und spürt oft einzelnen Sätzen nach. Etwa um aufzuzeigen, dass es andere Formen der Wahrnehmung und der Intelligenz gibt, die als solche erkannt und ernst genommen werden sollten. Auch Dath bleibt in Niegeschichte nah an den Erzählungen, wenn er die Entwicklungen und die Hauptanliegen des Genres diskutiert. Interessant und erfreulich ist, dass Dath einer Autorin ein ganzes Kapitel widmet, das von Superlativen nur so wimmelt, sie sei einfach «die Beste», eine «Stilistin, die das ganze Feld überragt»: Joanna Russ.
Die 2011 verstorbene US-Amerikanerin schrieb mit Romanen wie Picnic on Paradise (1968, dt.: Alyx) oder The Female Man (1975, dt.: Planet der Frauen bzw. Eine Weile entfernt) bahnbrechende Fiktionen einer explizit feministischen SF. Mit fragmentierten und völlig vermischten Perspektiven, Zeitebenen und Erzähler_innen-Identitäten sind ihre Bücher keine einfache Lektüre – und sie sind streckenweise recht brutal. Lässt man sich auf diese Texte ein, wird jedoch eine andere Form der Brutalität auf eindrückliche Weise spürbar; eine strukturelle Gewalt gegen Frauen, die Russ auch in ihrem Sachbuch How to Suppress Women’s Writing (1983) beeindruckend präzise sichtbar macht.
Russ ist auch für Haraway eine wichtige Inspiration, wie schon am Titel von Haraways 1997 erschienem Buch über Feminismus und Technoscience abzulesen ist: Modest_Witness@Second_Millennium.FemaleMan©Meets_OncoMouse™. Darin wird u. a. die großartige Marge Piercy und ihr Roman He, She and It (1991, dt.: Er, Sie und Es) besprochen, der die Golem-Sage und die Geschichte eines Cyborgs miteinander verschränkt. Piercys Woman on the Edge of Time (1976, dt.: Frau am Abgrund der Zeit) widerum erzählt von einer Frau, die unfreiwillig durch die Zeit reist und zwei alternative Zukünfte zu sehen bekommt – eine, auf die es sich hinzuarbeiten lohnt, und eine, die es zu vermeiden gilt.

Tragetaschentheorie.

Ich habe bei der Lektüre von Haraways Büchern einen Notizzettel neben mir liegen, der für Science-Fiction-Lesetipps reserviert ist. Neben Russ und Piercy sind Ursula K. Le Guin und Octavia Butler ständige SF-Begleiter_innen ihres Denkens. Le Guins The Left Hand of Darkness (1969, dt.: Die Linke Hand der Dunkelheit) ist der wahrscheinlich prominenteste Titel feministischer SF. Der Roman handelt von einem menschlichen Botschafter, der auf den Planeten Winter gesandt wird, dessen Bewohner_innen völlig fluide biologische und soziale Geschlechter haben.
Für Haraway ist aber besonders Le Guins Tragetaschentheorie der Fiktion wichtig, die deutlich macht, dass es entscheidend ist, welche Art von Geschichten wir kultivieren. In diesem kurzen und wunderbaren Essay zeigt Le Guin, dass evolutionäres Mensch-Werden sowie heutiges Mensch-Sein gern anhand von spitzen, gefährlichen Gegenständen erzählt wird, mit denen Helden töten und erobern. Dabei könnten – und sollten – wir unsere Weltbewohnung ganz anders erzählen. Zum Beispiel weniger zerstörerisch, anhand von Tragetaschen; anhand von den Behältern und Netzen, die es möglich machen, Dinge aufzubewahren, mitzunehmen und zu beschützen.
Auch Octavia Butler geht es darum, andere Perspektiven, Lebensstile und Körper in unser Denken zu bringen. Ihre Xenogenesis-Trilogie (1987–89) erzählt, wie die Oankali, tentakuläre Außerirdische, die Erde vor der nuklearen Auslöschung retten, im Gegenzug dafür aber darauf pochen, in das menschliche Erbgut einzugreifen. Es handelt sich um eine Art, die sich durch absichtliche Hybridisierung mit anderen Arten weiterentwickelt – eine Idee, die den meisten Menschen in Butlers Erzählung vollkommen widerstrebt; abgesehen davon, dass die individuelle, tentakuläre Fortpflanzung für sie, gelinde gesagt, gewöhnungsbedürftig ist.
Schon in H. P. Lovecrafts Cthulhu-Geschichten aus den 1920er-Jahren oder der Alien-Filmreihe ab 1979, markieren die Tentakel-Wesen ein dem Menschen gegenüber ganz Anderes. Während sie dort aber als Horrorwesen vorkommen, mit denen Kommunikation oder gar Zusammenleben undenkbar ist, finden sich bei Butler und in der zeitgenössischen Science-Fiction viele interessante Tentakuläre, die eher menschliche Konventionen und Körpervorstellungen in Frage stellen.
Die drei Binti-Novellen (2015–18) der nigerianisch-amerikanischen Autorin Nnedi Okorafor erzählen, wie ein menschliches Mädchen mit den gefürchteten, außerirdischen «Medusen» Freundschaft schließt. Binti gehört den namibischen Himba an, zu deren Tradition es gehört, sich am ganzen Körper mit einer ockerfarbenen Paste einzureiben. Diese Paste schützt Binti vor den kriegerischen Medusen, und als sie schließlich ihr Vertrauen gewinnt und in ihre Gemeinschaft aufgenommen wird, verwandeln sich ihre lange Zöpfe in fühlende, tastende Tentakel.

Krisenliteratur.

Zwei Autorinnen, die Donna Haraway jüngst immer wieder erwähnte, sind auch meine aktuellen SF-Highlights: Da ist N. K. Jemisin und ihre Broken Earth-Trilogie (2015–17, dt.: Die große Stille). Und Rebecca Roanhorse mit Trail of Lightening (2018, dt.: Jägerin des Sturms) und Storm of Locusts (2019). Roanhorse, die auch Star Wars-Romane schrieb und Native-American- sowie afroamerikanische Wurzeln hat, entwirft hier extrem spannungsgeladene Action-SF, die auf der Kultur der Navajo aufbaut.
Es ist kein Zufall, dass aktuell wieder viel Science-Fiction produziert und konsumiert wird; in Zeiten, in denen sozialpolitische und feministische Errungenschaften ins Wanken geraten und globale ökologische, ökonomische und medizinische Krisen im Raum stehen. Hoffnungsvoll stimmt mich, dass dies nicht nur aus eskapistischen Gründen passiert (was auch seinen Platz und seine Berechtigung hat), sondern dass sich viele dieser zeitgenössischen SF-Fiktionen als gelungene «Denk- und Kunstmaschinen» anbieten, die uns ein stückweit helfen könnten, die aktuellen Geschehnisse sowie mögliche Auswege zu fassen zu bekommen. 

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