Der Adorno Afghanistanstun & lassen

Berufsverbot und Haft, Flucht und Exil

Am 14. Juli starb der Autor und Dichter, Historiker und Philosoph Ali M. Zahma in Wien. Erst vor wenigen Wochen erschien im Wiener Mandelbaum Verlag die von Christian Reder sorgfältig ausgearbeitete Biographie des herausragenden Denkers.

Alexander Behr hat sie gelesen.

Im Jahr 1928 in Kandahar geboren, war Ali M. Zahma viele Jahre lang Professor für persische Literatur und Geschichte Afghanistans an der Universität Kabul. Er setzte sich Zeit seines Lebens für Freiheit und Gerechtigkeit in seinem Land ein und geriet deswegen immer wieder in Konflikt mit der herrschenden Politik; wahlweise wurde er als Sozialist verfolgt, oder aber als jemand, der angeblich «westliche Gedanken» ins Land bringen wollte. Christian Reder, Professor für Kunst- und Wissenstransfer in Wien, verband ein enges freundschaftliches Verhältnis mit dem «Adorno Afghanistans», wie er ihn nennt. Reder war von 1980 bis 1994 Leiter des Österreichischen Hilfskomitees für Afghanistan, das vor Ort auf beeindruckende Weise zehntausende Flüchtlinge unterstützte. Die detailreich kommentierte Biographie macht die Geschichte Afghanistans sowie die dortigen Lebensumstände greifbar. Reder widmet auch ein eigenes Kapitel Ali Zahmas Ehefrau Zebenda Zahma. Mit üblichen Frauenrollen brechend emanzipierte sie sich schon früh, leitete in den 1960er-Jahren eine neu aufgebaute Frauenklinik im Norden des Landes und später auch den Pflegebereich eines Krankenhauses in Kabul. Dies war möglich, da die Jahrzehnte vor dem Bürgerkrieg relativ liberal waren und oft als «Goldenes Zeitalter» des Landes beschrieben werden.

Ein Fremder? Ein Mensch!

Kabul wurde damals als «eine der modernsten Städte Asiens» gepriesen. Im Jahr 1959 wurde der Schleierzwang, der auf dem Land ohnehin kaum praktiziert wurde, ohne nennenswerte Gegenwehr aufgehoben. Kurz: Es gab trotz der Herrschaft des Königs Zahir Shahs, der mitunter brutal gegen Proteste vorging, immerhin Hoffnung auf eine positive Entwicklung. Ali M. Zahma beteiligte sich an vorderster Front an den Reformbestrebungen. Reder beschreibt eindrücklich, wie viele frühe Reisende und – seit den 60er Jahren – tausende Hippies erfahren konnten, wie tolerant und offen die Bevölkerung auf noch so eigenwillige Lebensformen reagierte. Ein Szenario, das heute nicht denkbar ist. Da nie kolonisiert, nie dauerhaft von den Briten beherrscht, gebe es in Afghanistan «keinen Komplex auszuheilen». «Ein Fremder? Ein farangi? Ist einfach ein Mensch!», notierten der Maler Thierry Vernet und sein Reisegefährte Nicolas Bouvier im Zuge einer Afghanistan-Reise in den 50er-Jahren.

Verfolgung und Flucht.

Doch im Jahr 1978 begann der Krieg. Im April 1979, noch Monate vor der Sowjetinvasion, wurde Zahma inhaftiert und schwer gefoltert. Oft nahm der berüchtigte Geheimdienstchef Asadullah Sarwari selbst an den Quälereien teil. Zahma wurde beschuldigt, als Angehöriger der Minderheit der Hazara und als Reaktionär die Konterrevolution der Mudschaheddin zu unterstützten. Nach elf Monaten kam er im Zuge einer Generalamnestie frei. Im Jahr 1985 wurde ihm ein Aufenthalt im Budapester Sankt László Krankenhaus gestattet, um seine Diabetes und die Folgen der Folter zu behandeln. Von dort gelang ihm mit der Hilfe von Christian und Ingrid Reder die Flucht nach Wien.

Die komplexe Geschichte Afghanistans ist im Westen heute wenig bekannt. Staatliche Stellen, die ihre menschenverachtende Abschiebepolitik exekutieren wollen, legitimieren ihren Kurs mittels extrem fragwürdigen und dilettantischen «Länderberichten», wie die des Geschäftsmanns Karl Mahringer aus Liezen. Ali M. Zahma hingegen gehört zu den wichtigen Stimmen des Landes, die die Realität niemals beschönigten, sondern auf eine wirklich gerechte und demokratische Entwicklung hinarbeiten wollten. Die Geschichte Afghanistans hielt dafür in der Tat immer wieder Möglichkeitsfenster offen. Doch wie so viele andere Länder der Peripherie wurde Afghanistan zwischen den Fronten des Kalten Krieges aufgerieben. Heute weiß jedes Schulkind, dass in den 70er- und 80er-Jahren tausende islamistische Kämpfer von den USA massiv unterstützt wurden, um im Land am Hindukusch gegen die Sowjets zu kämpfen. Die fünfjährige Herrschaft der Taliban von 1996 bis 2001 stellte dann ein Worst-Case-Szenario dar, das der Westen wesentlich mitzuverantworten hat. Heute dauert der sogenannte «Krieg gegen den Terror» bereits seit 17 Jahren an. Die Taliban sind erneut erstarkt. Wie Ali M. Zahma analysierte, drohen «noch Jahre der Unruhe».

Pflichtlektüre für Politiker.

Mit Ali M. Zahma hatte Wien das Glück, einen herausragenden Denker beherbergen zu dürfen, dessen kritische Stimme gerade jetzt so merklich fehlt. Denn heute werden Asylsuchende aus Afghanistan in den Medien diffamiert und vom Staat abgeschoben, in ein Land, das zerrüttet ist und in dem ihnen Gefahr für Leib und Leben droht. Erst jüngst, am 10. Juli, erhängte sich der 23-jährige Jamal Naser Mahmodi nach seiner Abschiebung aus Deutschland in Kabul. Gerade Politiker wie Seehofer oder Kurz, diejenigen also, die tragische Geschehnisse wie diese zu verantworten haben, sollten Zahmas Biographie lesen. Vielleicht würden sie dann begreifen, welches Leid und welchen Schaden sie mit ihrer Politik verursachen. Unsere Aufgabe besteht darin, Widerstand zu leisten und unser Herz und unseren Verstand zu bilden, damit Verbundenheit und Solidarität entstehen. Das Buch über Ali M. Zahma ist dafür ein äußerst wichtiges Handwerkszeug.

Christian Reder: Noch Jahre der Unruhe …

Ali M. Zahma und Afghanistan

Mandelbaum 2018

200 Seiten, 18 Euro