In Rumänien mündet die Donau ins Schwarze Meer. Vor über 60 Jahren warf Ilie Ignat hier erstmals seine Angel aus. Heute beklagt er den Niedergang seiner Heimat, der auch mit den goldenen Zeiten der Fischerei zu tun hat.
TEXT: Johannes Greß, Christof Mackinger
FOTOS: Johannes Greß
MITARBEIT: Andra Samoilă
Ilie Ignat wartet bereits auf der Bank vor seinem Haus. Sein ansehnliches Heim liegt in einer Ortschaft im östlichsten Rumänien, im Donaudelta. Der freundliche Mann mit dem Strohhut sitzt schon eine ganze Weile hier. «Ich habe mein Leben lang hart gearbeitet. Jetzt ist Zeit, mich etwas auszuruhen», lacht er. Das Gehen ist für Ignat beschwerlich, seine Beine sind von Narben überzogen. Auf eine Krücke gestützt führt er auf die Terrasse, während Chip, sein Hund, mit wedelndem Schwanz hinterher läuft. Der 80-Jährige nimmt Platz in seinem Schaukelstuhl und beginnt zu erzählen. Von damals, als das kommunistische Ceaușescu-Regime das Land mit Terror überzog, und gleichzeitig sein Heimatort aufblühte.
Ilie Ignat ist der älteste noch lebende Fischer im rumänischen Sfantu Gheorghe. Der 650-Einwohner:innen-Ort markiert das Ende der Donau, der letzte Ort, bevor der zweitlängste Fluss Europas nach knapp 3.000 Kilometern ins Schwarze Meer mündet. Hier gibt es weder Bankomat noch befestigte Straßen oder eine:n Ärzt:in. Und da Sfantu Gheorghe nur per Boot erreichbar ist, dauert es in Notfällen bis zu eineinhalb Stunden, bis Hilfe kommt. Ältere Menschen, die gemächlich über die sandigen Straßen spazieren, prägen das Ortsbild. Die meisten Jungen haben dem Ort längst den Rücken gekehrt, zu wenig Jobs, zu wenig Perspektiven. Aber das war nicht immer so.
Rekordfänge
Das Donaudelta, in dem Ignats Heimatort liegt, gilt nach wie vor als der «Amazonas Europas». Die weitgestreckte Schilflandschaft, durchzogen von verzweigten Kanälen, bildet ein einzigartiges Ökosystem und ist Lebensraum für zahllose Tierarten. Wie sein Vater und seine Brüder auch begann Ignat bereits früh mit dem Fischen. 1963 stieg er ins «Family Business» mit ein. Dreimal pro Woche gingen Ignat und seine Brüder fischen. Jagd machten sie vor allem auf den bis zu fünf Meter großen Stör. Ihren Fang legten sie anschließend für ein paar Stunden in Salz ein. Erst dann entnahmen sie den Schwarzen Kaviar. Erst, wenn er «die perfekte Form und Konsistenz» hatte, wie Ignat sagt. Bis heute ist Beluga-Kaviar ein begehrtes Luxus-Produkt. Noch heute schwärmt er von seinem größten Fang, ein 396 Kilogramm schwerer Stör, mit «76 Kilogramm perfekten Eiern». Mit dem Kaviar-Export verdienten sie gutes Geld. Aber zum Nachteil der Tiere: Heute sind alle Störarten vom Aussterben bedroht.
Den Rest der Woche fischten Ignat und seine Kollegen für den rumänischen Markt, 15 bis 20 Tonnen Fisch holten sie pro Monat aus dem Wasser. Teilweise hätten sie Helikopter gebraucht, erzählt der Mann lebhaft, um den Fang abzutransportieren. Staatliche Restriktionen gab es keine. Jeder konnte so viel fischen wie er wollte, die Fangsaison ging von Jänner bis Dezember. «Das waren wirklich, wirklich gute Zeiten. Ich hatte ein gutes Leben.»
Das kommunistische Regime unter Langzeitherrscher Nicolae Ceaușescu stellte wirtschaftliche Produktivität vor den Umweltschutz. Ignat, seine Brüder, ja ganz Sfantu Gheorghe profitierten, fern der Hauptstadt, von den laxen Regelungen und der Abwesenheit des Staates – und lebten ein vom Bukarester Regime relativ unbehelligtes Leben.
«Revoluție»
Der Wohlstand auf Kosten der Natur aber währte nicht ewig. Ende 1989 war er vorbei. Spricht Ignat von der «revoluție» verfinstert sich seine Miene. Während große Teile der Bevölkerung die Hinrichtung Ceaușescus am 25. Dezember 1989 und das Ende jahrzehntelanger Misswirtschaft und staatlichen Terrors bejubelten, ging es mit Sfantu Gheorghe nach dem Machtwechsel bergab. Ignats Hände beginnen zu zittern. Nach vorne gebeugt setzt er mit bebender Stimme seine Erzählung fort: Wegen zunehmender Überfischung begann der rumänische Staat den Fischfang restriktiver zu handhaben. Im Jahr 2006 verhängte die Regierung ein Fangverbot. Noch heute sind nahezu alle Fischarten im Delta vom Aussterben bedroht. Was die Fischer in Sfantu Gheorghe seit dem Verbot aus dem Wasser holen dürfen, reicht kaum zum Überleben.
Aber Ilie Ignat vertraut nicht auf den Befund der Wissenschaft. Die gesetzlichen Beschränkungen seien ein weiterer Versuch der Regierung, die Bewohner:innen Sfantu Gheorghes zu schikanieren: «Die Behörden sagen, es gibt hier keine Fische mehr. Ich glaube das nicht.» Von den Verboten seien vor allem die kleinen Fischer betroffen, sagt er sichtlich verärgert. Die «Großen» würden das Verbot einfach ignorieren und weiter fischen wie bisher.
Einige im Ort versuchen ihr Glück im Tourismus, verdingen sich neben der Fischerei als Tourguides. Hunderte Boote mit Tourist:innen schippern täglich durchs Donaudelta. Am Ortsrand von Sfantu Gheorghe eröffnete vor wenigen Jahren ein großes Öko-Ferienressort, das Arbeitsplätze verspricht. Aber auch das nicht problemlos: Nur wenige Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt hemmt der anhaltende Krieg die Besuchslaune merklich. Dazu ist die Tourismussaison auf wenige Sommermonate beschränkt.
Nichts wie weg
Kein Wunder, dass viele dem Ort den Rücken kehren. Früher war es Tradition, dass die Alten den Jungen das Fischen beibringen. Doch heute, bedauert Ignat, verlassen die Jungen den Ort oder ziehen gleich ganz ins Ausland. Hier gebe es nichts zu tun, nichts zu verdienen.
In Sfantu Gheorghe geboren und aufgewachsen, hat Ignat sein ganzes Leben an dem Ort verbracht. Einsam oder isoliert habe er sich hier, am Ende der Donau, nie gefühlt. Er hatte die Dorfgemeinschaft und das Fischen. Seinen Enkelkindern wünscht er dennoch, dass sie Sfantu Gheorghe verlassen können, eine höhere Schule absolvieren, Geld verdienen. «Mit mir wird es bald vorbei sein», sagt Ignat. «Aber was wird danach kommen? Es schaut ziemlich furchtbar aus.»
Die Recherche wurde gefördert von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt sowie von Netzwerk Recherche/Olin gGmbH.