Der BettelprinzDichter Innenteil

Erster Teil

Die lange Suche nach Martin endete genau am 12. 11. 2018 in der Marxergasse im 3. Stock, Zimmernummer 303. Es ist ein seltsames Gefühl, eine Beerdigung zu feiern, die vor 6 Jahren, am 6. August stattfand.

Illustration: © Silke Müller

Manche Menschen müssen sterben, um wieder von Neuem geboren zu werden …

Die Buddhisten glauben an Wiedergeburt, ich glaube, wenn ich diesen irdischen Körper verlasse, werde ich in den Himmel aufsteigen, vorausgesetzt, ich verpasse nicht den richtigen Zug. Dann darf ich für immer in der Nähe von meinem Schöpfer bleiben.

Die lange Suche nach Martin endete genau am 12. 11. 2018 in der Marxergasse im 3. Stock, Zimmernummer 303. Es ist ein seltsames Gefühl, eine Beerdigung zu feiern, die vor 6 Jahren, am 6. August stattfand.

Leise und ohne Zeugen, nur die Seele und der Schöpfer wussten davon, dass der junge Körper, der dem geliebten Vater meiner Tochter gehörte, in der Erde verscharrt wurde. Und so der große Traum «Martin» zu Ende ging. Er war ein seltener Besucher, ich durfte immer wieder in diesen vielen Jahren aufs Neue ein Freundschaftsband mit ihm knüpfen.

Ich hätte ihn für einen Idioten gehalten

Wir bekamen ein gesundes, süßes, kleines Mädchen. Martin kümmerte sich wenig um dieses winzige lebende Geschenk. Er war viel zu sehr beschäftigt, sein Eremitenleben unter der Brücke mit vielen Dopplern und homosexuellen Freunden zu leben. Er überließ mir Jovana ganz allein. Seine Mission war erfüllt, zufrieden hatte er seinen Samen verschenkt an eine arme einsame Frau, wie ich damals, die von allen verlassen wurde. Hätte mir jemand damals kurz davor erzählt, dass ich mit 38 Jahren ein 3. Mädchen mit einem 3. Mann bekomme, der obdachlos ist, 9 Jahre jünger als ich, und ich wieder das Kind allein erziehen werde, hätte ich ihn für einen Idioten gehalten.

So viel über den Wunsch nach einem Kind, damals.

Das verhinderte die Tatsache nicht, dass ich jetzt wieder im Schlamassel sitze, zwar mit einem Kind, aber ohne Vater. Das Einzige, was erleichternd war: dass Sara und Sofija, meine beiden älteren Töchter, bei ihren Papas und der Oma lebten und ich mich jetzt um dieses Wesen alleine kümmern durfte. Vielleicht demonstrierte ich auch unterbewusst Martin den Verlust meiner Kinder, und er dachte, dass er deswegen zu mir von Gott geschickt sei …

Sara war 9 und Sofija 7, als sie von mir weggingen, danach aß ich monatelang so gut wie nichts und öffnete meinen Körper für alle Krankheiten; er war einfach zu früh, dieser Abschied von meinen Kindern.

Obwohl ich vielleicht keine perfekte Mutter war, konnte ich mir nicht leisten, wegen Martin und seinen närrischen Gewohnheiten das dritte Kind zu verlieren. Nein, das wollte ich nicht, obwohl mein Herz hinterherlief, wenn er die Türe zuknallte und uns für Monate oder Jahre vergaß. Ich entschied mich, unter dem Dach zu bleiben, um mich diesem kleinen Ding zu widmen, das Jesus mir – uns – schenkte. Nicht irgendjemand, sondern ich wollte mich um Jovana kümmern.

Er bat wie ein zerrupfter Kater um ein warmes Nest

Ich fragte mich oft, was das für eine Beziehung mit mir und Martin war.

In Frühling und Sommer hat man Martin kaum gesehen, dafür aber, wenn der Frost seine Zehen berührte, bat er wie ein zerrupfter Kater um ein warmes Nest. Denn das Straßenleben ist doch viel zu bitter im Winter. Vor allem damals, als der Winter seine Zehen erfror und ihm damit drohte, einen Zeh weniger zu haben, und weil Gott ihn so lieb hatte, ließ er ihm doch den großen Zeh.

Ich konnte nicht Nein sagen, und er hörte nicht auf zu bitten, es genügte nur ein paar Mal mit seinen blauen Augen zu zwinkern, ein paar Tränen zu lassen und eine arme verlorene Gestalt darzustellen. Schon begann das Spiel. Er: Wie lange hielt er es aus in der Familienstruktur. Ich: Wie nah lasse ich ihn an mein Frauenherz heran. Unser armes Kind betrachtete das «Bühnenstück» mit der Vorahnung, dass es wieder einmal ein Ende ohne «Happy» wird.

Das Maximum bei Martin war ein Monat, genug für uns beide, wieder einmal mit gebrochenem Herzen die leeren Zimmer von Neuem zu betrachten.

Und das ging seit 8 Jahren so, es würde noch weitergehen, wenn Martin nicht jetzt friedlich auf Parzelle 16 bei den Armengräbern auf dem Zentralfriedhof liegen würde.

Ohne eine Vorahnung oder einen prophetischem Traum verließ er uns. Ich weiß nicht mehr, was ich an diesem einen Montag vor 6 Jahren, genau 13 Tage vor seinem 34. Geburtstag tat. Vielleicht waren wir im Schweizer Park, badeten im Frei-Schwimmbad oder wir schaukelten gemeinsam glücklich auf einer Schaukel, und ich summte Jovana ein paar Lieder vor, die sie so sehr liebte. Vielleicht war ich in der Küche und machte gerade das Mittagessen oder wir besuchten Slavica.

Hätte ich ein Tagebuch geführt, wüsste ich es. Vermisste ich Martin an seinem Todestag oder verfluchte ich ihn? So bleibt nur eine große, weiße Mauer, die mir die Sicht versperrt.

Jetzt liegt es 6 Jahre zurück. Im Jahreskalender 2018 mit keinem M markiert. In den anderen Jahren spielt wie im Nebel ein Film in Zeitlupe, ein paar Fotos bei uns und lange Knochen auf dem Zentralfriedhof.

Dies sind die letzten Spuren meiner großen unerfüllten Liebe.

Doch es gibt etwas, das weiterlebt nach Martin, das ist unsere gemeinsame Tochter, ein Herzenswunsch von mir, ein Kind, das Martin gleicht.

Ich persönlich glaube, dass es Zeiten gibt, in denen wir unbeschwerter sind – wie in der Jugend – und empfänglicher sind für den anderen als jetzt mit 50. Sehr wohl glaube ich, dass so lange man lebt, man immer wieder aufs Neue lieben kann, denn ein Herz ist unbegrenzt und man soll es nicht schrumpfen lassen, das hat auch nichts mit Untreue oder Hurerei zu tun.

Er stahl den Schlüssel von meinem Herzen

So genoss ich den armen Bettler, der zu meinem Prinzen wurde, und der den Schlüssel von meinem Herz, der am Altar lag, heimlich stahl. Martin schlich sich in der Nacht, während ich friedlich schlief, hinein und kam nicht mehr heraus, die vielen Schnitte störten ihn nicht.

So viele Jahre ließ ich Martin in mein Herzen hinein, er geisterte ohne Lärm, nur ab und zu ein leichter Seufzer. Warum ich mich auf ihn einließ, kann ich nicht genau beschreiben, es war so wie eine göttliche Liebe. Martin war nicht mein Stereo-TYP, sondern ganz anders als die früheren Männer.

Das Gefühl von Schutz und Sicherheit hatte ich bei ihm kaum. Das fehlte mir sehr bei ihm. Und trotzdem verliebte ich mich in ihn mit der Zeit, nicht so sehr in sein Aussehen, eher in sein Herz, er hatte etwas, was die vielen Männer, die ich kannte, nicht hatten. Er konnte jahrelang nur eine Frau lieben, nämlich Kati, seine große Liebe, das faszinierte mich. Vielleicht erging es ihm auch wie mir in diesen 14 Jahren. Oder war er wirklich eine Figur aus einem Märchen, die tatsächlich existiert?

Für mich persönlich war das Leben viel zu kostbar, um mich in der Vergangenheit zu suhlen. Vielleicht ist meine romantische Veranlagung schuld, die mir dabei half, oft Partner zu wechseln, wobei ich mich bei den Namen durch Verwechslung verriet, am peinlichsten war dieses Erlebnis in Liebesnächten. Oder war es mein vererbter Huren-Geist, den ich als Einziges zum Erbe bekam von meinen Eltern …

Es waren oft sehr nette Kerle dabei, ein paar Perlen, die ich viel zu schnell in den Schlamm fallen ließ. Heute tut es mir leid, vielleicht ist dies auch eine Strafe, dass ich 14 Jahre männerlos war. Vor allem schmerzte mich meine große Jugendliebe Đorđe.

Das erste Mal im Leben übte ich Treue zu einem Mann, der vor 6 Jahren gestorben war und von dem meine Liebe nicht einmal erwidert wurde. Warum ich ausgerechnet nach zwei gescheiterten Ehen so einen Mann bekam, weiß ich nicht.

Oft war es sehr mühsam mit Martin. Kaum hat man ihn umarmt, so lief er schon wieder weg, bestrafte sich und mich, vor allem dieses kleine Geschöpf, das ihn so liebgewann.

Damals war sie klein und sie war gerade 6 Jahre alt, als Martin starb, heute ist sie 12 und der Tod von ihrem Papa ließ sie nicht ohnmächtig werden. Ein paar winzige Tränen fielen schüchtern, das war alles, was Martin in diesen 6 Jahren im Herz von seiner Tochter erntete. «Aus den Augen, aus dem Sinn» – dieser Spruch könnte von einer alleinerziehenden Mutter erfunden worden sein. Nicht der ist der Vater, der erzeugt, sondern der, der sich um das Kind kümmert.

Trotzdem haben wir beide einen Verlust im Herzen – nicht unerträglich –, es fühlt sich so an, als wäre eine gute Bekannte gestorben. Dafür danken wir Gott, dass wir von seinem Tod erst nach 6 Jahren erfuhren, um diese Distanz zu erschaffen.

Jahrelang spielte Martin ein Versteckspiel mit uns. Er ging für ein Jahr weg, für ein halbes Jahr, ein paar Monate, Wochen oder Tage. Am Anfang suchte ich ihn, wenn er weglief und nicht mehr kam, aber dann wurde ich bald müde, vor allem, als Jovana da war, Mutterjob hat keine Ruhestunde.

Fortsetzung in AUGUSTIN 480, der am 10. April erscheint