Die Abenteuer des Herrn Hüseyin (33)
Herr Hüseyin besucht oft sein Lokal im ersten Bezirk. Die Stammgäste sind aus Wien, den Bundesländern, und viele haben einen Migrationshintergrund. Auch viele der Stammgäste, die sich jetzt als echte Wiener bezeichnen, haben interessanterweise auch einen Migrationshintergrund.
Illustration: Carla Müller
Im Unterschied zu den neuen Wienern können sie besser Wienerisch sprechen. Obwohl es ein zypriotisches Lokal ist, sind die Besitzer doch keine Zyrioten. Einer der Stammgäste trägt den Spitznamen «Bürgermeister». Der Bürgermeister ist einer in den Achtzigern von seinem Onkel hierher, also nach Wien, eingeladener Kurde aus Dersim. Er ist Mitte fünfzig. Der Bürgermeister ist der Schönstangezogene von den Stammgästen. Nachdem ihn sein Onkel hierhergebracht hatte, hat er auch die eigenen Geschwister nachgeholt. Es sind eben auch sehr viele Verwandte vom Bürgermeister in Wien. Manche Wiener nennen ihn auch «Bürgerl». Bevor der Bürgermeister nach Wien kam, lebte er in einem kleinen kurdischen Dorf. Er und seine Verwandten beschäftigten sich mit Viehzucht und Landwirtschaft. Mit ihren Schafherden waren sie über den Sommer auf den Bergen von Dersim (Tunceli) unterwegs. Der Bürgerl redet oft mit dem Hüseyin über die alten Zeiten. Er kam von den Bergen herunter ins Tal, um für die auf den Bergen Mehl und etliche Lebensmittel mit Maultier und Pferd zu bringen. Oft begegnete er Brauenbeeren (Braunbären?) und Wölfen. Hunderte Schafe hatten sie gehabt. Sie erzeugten Käse und Butter. «Damals», sagte er «konnte man nicht viel für Käse und Butter bekommen, im Gegensatz zu heute.» Es rentierte sich nicht. Aber es war eine Tradition seit Generationen, dass man ab Mitte Mai die Tiere auf die Alm treibt und monatelang dort lebte. Das war die schönste Zeit, sowohl fürs Tier als auch den Menschen. Wir schlachteten kein Tier für eigene Fleischgelüste. Jedes Tier hatte einen Namen. Wir profitierten ja von ihnen, warum sollen wir sie schlachten? Außerdem war es sehr schwer, sie zu schlachten, weil wir diese Tiere kannten. Meistens waren Wölfe in der Nähe der Herde. Obwohl wir Schäferhunde hatten, schafften es die Wölfe immer wieder, sich eins zu jagen. Natürlich hatte ich einen Gusto nach gegrilltem Fleisch. Aber die Tiere lebendig zu sehen, war doch wichtiger.
Dem Bürgermeister geht es in Wien gut. Jedes Wochenende ist er auf die Hochzeitsfeste seiner Landsleute eingeladen. Selber hat er zwei Kinder. Beide haben in Wien studiert. Unter den Kurden ist er ein angesehener Mann. Weil er auf allen Hochzeiten und Todesfällen dabei ist. Bei Hochzeitsfesten muss jeder Gast dem Brautpaar bei einer Zeremonie zur Unterstützung als Geschenk Geld geben. Es fängt bei fünfzig Euro an und endet nicht bei tausend Euro. Der Bürgermeister hat in vielen verschiedenen Jobs gearbeitet. Auf der Kärntner und der Mariahilfer Straße. Auf der Straße verkaufte er Bonbonieren an Einheimische und Touristen. Als Kellner und Immobilienmakler war er auch tätig. Ihm geht es in Wien eigentlich sehr gut. Seitdem er in Wien ist, denkt er oft an die politische Situation in seinem Heimatland. Über Satellitensender schaut er sich in seinem Wiener Wohnzimmer die politischen Ereignisse in der Türkei an. Alles kann er sich hier für einen besseren Lebensstandard leisten. Aber mit den Gedanken ist er dort geblieben. Sein Körper ist in Wien, aber in Träumen ist er dort. Gegen die Ungerechtigkeiten kämpft er oft in seinen Alpträumen. Wenn er aufwacht, findet er sich schweißgebadet in seinem Bett in seiner Erdgeschosswohnung wieder. Der Tag fängt von Neuem an. Wochenenden sind für die Hochzeiten reserviert, Kartenspielen mit seinen Leuten in türkischen Kaffehäusern und Besuch bei seinem Freund Josef.
Eines Tages wird er wieder auf die Berge gehen, aber nicht hinter einer Schafsherde! Unser «Bürgerl».