Der Coup mit der GeheimdienstlerinArtistin

Im Gespräch mit einem der außergewöhnlichsten Verleger in Österreich

Jedes Jahr kommen allein im deutschen Sprachraum 90.000 neue Bücher auf den Markt. Jürgen Schütz‘ SEPTIME Verlag macht das Kraut nicht fett. Acht bis zehn Bücher publiziert der ehemalige Automechaniker im Jahr. Aber welche Perlen kommen aus seinem Labor!

Beim Stichwort «James Tiptree junior» läuft die Internet-Enzyklopädie Wikipedia, und zwar deren deutsche Abteilung, zu ihrer Höchstform auf. Das traf sich gut, denn Jürgen Schütz, Gründer des Wiener Literaturverlags SEPTIME, hatte mich eben sehr neugierig auf das Werk Tiptrees gemacht. Schütz, als ehemaliger Mechaniker und Oldtimer-Sammler ein Quereinsteiger in den Buchbetrieb, hatte seinen verlegerischen Spürsinn gezeigt, als er 2011 die Rechte am Gesamtwerk der US-Science-Fiction-Autorin erwarb.

In den USA gilt die 1915 in Chicago geborene Schriftstellerin und Psychologin Alice B. Sheldon – Tiptree war nur ihr Haupt-Pseudonym, ein anderes war Raccoona Sheldon – als selten geniale Kurzgeschichten-Autorin des Science-Fiction-Genres. Ihr Leben nahm einen Verlauf, der auch außerliterarisches Interesse weckte. Als Kind begleitete sie ihren Vater, einen Naturforscher, bei seinen Afrika- und Asien-Expeditionen. Nach einem Intermezzo als bildende Künstlerin trat sie in die Luftaufklärung der US-Army ein. Im Allgemeinen traute man dort Frauen nicht besonders viel zu, Alice B. Sheldon machte dennoch Karriere, wurde zur ersten Frau, die in die Foto-Aufklärung der Armee zugelassen wurde. 1945 heiratete sie den zweithöchsten amerikanischen Geheimdienstler, und als 1952 der CIA gegründet wurde, fragte man sie, ob sie dabei sein wolle. Sie stimmte zu, aber schon nach drei Jahren wusste sie, dass der CIA doch nicht zu ihr «passte».

In den 60er Jahren begann sie, verschiedenen Science-Fiction-Magazinen Kurzgeschichten anzubieten. Viele davon gelten heute als Klassiker des Genres. Der Tod war hollywoodgerecht wie das Leben, er war so spektakulär wie ihre Sprache einzigartig war (Wikipedia: «Eigenartige Verbindung von Drastik, Befremden und Feinfühligkeit»), und alle drei zusammen, Leben, Tod und Werk, könnten in ihrer Kombination die Prophezeiung des Feuilletons der «Süddeutschen Zeitung» in Zeitunterbietung wahr machen: «Ich bin mir ziemlich sicher, dass man im 22. Jahrhundert Tiptree lesen wird wie wir heute Kafka» (Denis Scheck).

Frauen und Männer wie verschiedene Rassen

Der Tod also: Der Ehemann, der Geheimdienstler, war in den 80er Jahren bettlägerig und fast blind geworden, und sie selber litt unter Depressionen und Herzinfarkten. Sie erschoss im Mai 1987 ihren Gatten und dann sich selbst, eine von beiden geplante Antischmerztherapie. In ihren Fiktionen war von solchem Konsens zwischen Mann und Frau nicht oft die Rede. Noch einmal Wikipedia: «In manchen von Tiptrees Stories scheint es, als seien Frauen und Männer Angehörige zweier verschiedener Rassen, zwischen denen Verständigung nur selten und eher in psychischen Ausnahmezuständen glückt; in anderen Stories gibt es anfangs ein friedliches Zusammenleben der Geschlechter, das dann zunehmend zerbricht.»

Die Autorin selbst zu ihrer Position im patriarchalischen Rahmen der US-Gesellschaft: «Man hat mich als genial bezeichnet, als schön, neurotisch, selbstmordgefährdet, rastlos, amoralisch, anarchisch, gefährlich, durcheinander, schwach, stark, verdreht und schlichtweg verrückt. (…) Und es ist meine Überzeugung, dass mindestens neunzig Prozent von all dem auf meine Angehörigkeit zum weiblichen Geschlecht an diesem Ort und zu dieser Zeit zurückzuführen sind.»

So viel zu James Tiptree junior. Es reicht aus, um sich auszumalen, wie der Coup des bisher Unbekannten im deutschsprachigen Verlagswesen Freund & Feind überraschte: Jürgen Schütz plagte nicht der geringste Zweifel von wegen unternehmerisches Risiko, als er die Gelegenheit beim Schopfe packte, «Sämtliche Erzählungen» der Tiptree in sieben Bänden auf den deutschen Markt zu werfen; im heurigen Frühjahr erschien bereits Band Nummer 3, zusammen mit der ins Deutsche übersetzten Biografie von Julie Phillips («James Tiptree jr. – Das Doppelleben der Alice B. Sheldon»).

Insgesamt will Jürgen Schütz acht bis zehn Bücher pro Jahr publizieren. Das Überleben eines derart kleinen Verlages verdankt sich einer individuellen «Umverteilungspolitik» von der Auto-Wirtschaft zur Kunst. Der Ertrag seiner Oldtimer-Sammlung – auf fünf seiner sechs historischen Alfa Romeos verzichtete er zugunsten der Bücher, ein Akt des Loslassens, der einen alternativen Nobelpreis verdient – steckt nun im Verlag. Und ohne es zu ahnen «sponsert» auch der Renault-Konzern den Verlag. Denn der ehemalige Automechaniker Jürgen Schütz hat sich zum Kundendienstmanager dieser französischen Marke verbessert und kann Gehaltsanteile dorthin umleiten, wo seine Leidenschaft sitzt. Weil auch Sabrina Gmeiner, Verlagsassistentin, ihre Lebensmittel aus anderen Quellen finanziert, hält sich SEPTIME über Wasser. «Wir sind einer der ganz wenigen Verlage, die den Autorinnen und Autoren Vorschuss zahlen», ist eine weitere erstaunliche Auskunft des Verlagsgründers. «Ich rate den Autorinnen und Autoren dringend ab, zu Verlagen zu gehen, die nichts zahlen, sondern im Gegenteil Geldbeiträge von den Schreibenden verlangen.»

Enthaupteter Häuptling sucht sein Haupt

Dass Herr Schütz sich gelegentlich verspekuliert, kann nicht ausbleiben. Dass Nona Fernandez ein Ladenhüter wurde, war nicht abzusehen. In Chile, der Heimat der Autorin, gab es ein «Griss» um ihren Roman «Die Toten im trüben Wasser des Mapocho». Das groteske Mosaik der Handlung (ein Strang ist die Suche eines enthaupteten, nichtsdestotrotz umherstreifenden Häuptlings der Mapocho-Indianer nach seinem Kopf) stellt einen weiteren Höhepunkt der in Lateinamerika entwickelten Romangattung des Magischen Realismus dar, der auch im deutschen Sprachraum seine Liebhaber_innen finden sollte.

Wäre der chilenische Bestseller bei Suhrkamp erschienen, hätte einer der Literaturpäpste Lunte gerochen; seine Rezension in einer der großen Feuilletons hätte Multiplikatoren gefunden, und einer Isabel Allende wäre in Mitteleuropa plötzlich eine Konkurrenz gewachsen.

Unser Gespräch beginnt an dieser Stelle um die Fragestellung zu kreisen, warum die Literatur, warum die Literat_innen in anderen Breiten einen Stellenwert besitzen, von dem auch die Jelineks und die Streeruwitz‘ nur träumen können: warum in Südeuropa und Lateinamerika Schriftsteller zu den obersten moralischen Instanzen zählen, warum das Poesiefestival in Kolumbien ähnlich populär ist wie bei uns DJ Ötzi, warum Jewtuschenko in Moskau 1956, bei seiner Lesung zum sowjetischen Tauwetter, 50.000 Zuhörer_innen im Stadion hatte. Jürgen Schütz findet keine schlüssigen Erklärungen, nur eine ziemlich vage: Er erinnert mich an den Film «Der Club der toten Dichter» und meint, mit Deutschlehrern vom Schlag des Protagonisten des Films schaue die Sache anders aus. Er erinnere sich an seinen Literaturvermiesungslehrer: «Dieser angebliche Pädagoge traktierte mich, weil ich Edgar Wallace verschlang, also etwas angeblich minderwertiges.»

Der afghanische Koch


Weil man bekanntlich kaum etwas von der Schule ins Leben mitnimmt, weil es der Alltag ist, der uns das meiste beibringt, konnte auch dieser Pädagoge in Jürgen Schütz die Lust auf Bücher nicht ersticken. Schon als Automechaniker las und las und las er: Thomas Mann, Max Frisch, Julio Cortázar, Roberto Bolaño. Gern hätte er dazu hunderte Leben zur Verfügung gehabt, denn in e i n e m Leben kann man höchstens 4000 Bücher lesen, während allein im deutschsprachigen Raum jährlich 90.000 Bücher neu auf den Markt kommen. Paradoxerweise hat erst sein Verlags-Engagement den Textekonsum abgebrochen: «Ich habe heuer noch kein einziges fremdes Buch gelesen», schüttelt er den Kopf, und er wisse auch von Branchenkollegen, dass sie ihre Lektüre zwangsläufig auf das Verlagsrelevante reduzieren.

Diese Reduktion sollte verschmerzbar sein. Denn das Verlagsrelevante ist bei SEPTIME von auserwählter Qualität. Mir als Augustin-Menschen legt er eine seiner österreichischen Entdeckungen ans Herz, die 37-jährige Isabella Feimer, deren Roman «Der afghanische Koch» im Frühjahr dieses Jahres erschien. Ein Flüchtling aus Afghanistan steht im Zentrum der Geschichte; es ist (ungeplant) das Buch zur Refugee-Camp- und Votivkirche-Bewegung. Und anknüpfend an unser oben erwähntes Gespräch, in dem wir den mickrigen Besuch bei Buchpräsentationen und Lesungen in Wien mit dem popkonzertartigen Ansturm zu Dichterauftritten anderswo verglichen und über die performativen und rhetorischen und auratischen Defizite vieler heimischer Literat_innen jammern, empfiehlt Jürgen Schütz: «Die Feimer kommt vom Schauspiel. Wenn sie liest, schafft sie Erlebnisse. Sie steht für Lesungen zur Verfügung. Einfach office@septime-verlag.at anmailen!»