Vom beengenden Kärnten ins befreiende Wien
Der Augustinverkäufer Josef Geric kennt Obdachlosigkeit von zwei Seiten. Einerseits hat er für ein paar Jahre ehrenamtlich an der Seite von Pater Georg Sporschill Menschen ohne Wohnung betreut, andererseits verlor er allmählich den Boden unter den Füßen und wurde selbst obdachlos. Seit zwei Jahren erlebe er aber einen „starken zweiten Frühling“, denn die Alkoholsucht habe er Dank seiner Freundin erfolgreich bekämpft.Über Obdachlosigkeit könnte ich stundenlang reden“, meint mit gelassener kärntnerisch gefärbter Stimme und entspannter Körperhaltung der 54-jährige Josef Geric. In einem speziellen Sinne möchte er die Erfahrungen als Obdachloser nicht missen, denn so konnte er Menschen “ wirklich gut kennen lernen“ und „großen Zusammenhalt“ in einer Clique vorfinden. „Ich weiß jetzt, wie schnell auch Doktoren und Ingenieure nach unten fallen können. Meist sind es familiäre Probleme, und wenn die Familie zerbricht, was bleibt dir dann übrig? -Prost! -Die Flasche. Das Saufen geht schnell, aber wieder nach oben kommen, geht nur schwer, dazu braucht man einen richtigen Halt“, erläutert kurz und bündig der Augustinverkäufer.
1997, ein Jahr nach der Gründung des Augustin, sei er durch seinen Freund Martin, der unter den ersten zehn Verkäufern war, angeregt worden, es ihm gleich zu tun. Gerics Verkaufsplatz ist beim AKH, genauer auf der Brücke, die die U6-Station Michelbeuern mit dem Haupteingang des Krankenhauses verbindet: „Als ich beim Augustin begonnen habe, waren die meisten U-Bahn-Stationen noch nicht von Augustinverkäufern besetzt – heute ist es umgekehrt“, konstatiert Josef Geric und liefert eine Erklärung dafür: „Die Lebensbedingungen sind schlechter geworden. Mittlerweile brauchen mehr Leute diese Arbeit, um überleben zu können.“ Dabei nennt er sich und seine Freundin Martina als bestes Beispiel. In den letzten Jahren sei seiner Meinung nach auch die Anzahl der Obdachlosen in Wien gestiegen. -Wobei es mir ab und zu weh tut, dass Menschen aus Osteuropa kommen und sich als Obdachlose ausgeben, um den Augustin verkaufen zu können.“ An dieser Stelle differenziert Josef Geric, dessen Vater aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Kärnten geflüchtet war: „Viele, denen es in ihrer Heimat nicht schlecht geht, kommen her, nützen die Arbeitsmöglichkeiten aus und marschieren nach zwei, drei Jahren wieder zurück. Aber denen es schlecht geht, die sollen kommen und hier arbeiten können.“
„Tschuschenbua“
Knapp vor dem Erwachsensein zog es das einzige Kind der Familie Geric von einem winzigen Bauernhof weg in die Hauptstadt: „Für mich kam nur Wien in Frage. Als Bergbauernbub wird man auf dem Land im Denken eingeschränkt.“ Die konkreten Gründe waren ein getrübtes Verhältnis zur Mutter, ein gebrochenes Verhältnis zur näheren Bevölkerung und die Spanische Hofreitschule. „In Kärnten ist schon wieder, nein, eigentlich noch immer, nationales Denken anzutreffen, was ich schon in meiner Schulzeit spüren musste. Ich habe einen slowenischen Vater. In der Schule ‚Tschuschenbua‘ zu hören, hat mir weh getan. So etwas ist auf dem Land sehr arg.“ Seine Hoffnung, in der Stadt akzeptiert zu werden, erfüllte sich für Josef Geric voll und ganz: „Anfangs war es für mich als Bub aus den Bergen in der fremden Stadt eine schwierige Zeit, doch ich bin ein wenig stolz, es geschafft zu haben.“ Nach Wien zog es ihn nicht nur des liberaleren Denkens wegen, auch Pferde spielten eine bedeutende Rolle. In Kärnten arbeitete er für seinen Onkel, der in der Tourismusbranche tätig war und einen Pferdeverleih hatte. Neffe Josef sollte sich durch die Arbeit in der Hofreitschule die Konzession für den Pferdeverleih holen, was ihm nur recht war, denn im Winter war arbeitsmäßig „tote Hose“.
Seine erster Job in Wien trat er in der Spanischen Hofreitschule als Pfleger an, und später arbeitet er noch ein wenig als Dresseur: „Ursprünglich hatte ich vor, nach ein paar Jahren wieder zurück nach Kärnten zu gehen, um im Pferdeverleih weiter zu arbeiten. Wir waren zu dritt. Einer hatte die Wirtshauskonzession, der andere eine für die Pension und ich für die Pferde, also hatten wir einen kleinen Betrieb.“ Josef Geric konnte zwar mit der Konzession aufwarten, doch nach Anraten des Onkels -Kärnten bringt nichts“ -blieb er weiterhin in Wien, was ihm nur recht sein konnte. In Wien fühlte er sich rasch heimisch und bekam auch große mentale Unterstützung von Frau Jolanda von der Pferderennbahn Freudenau, einem weiteren Arbeitsplatz von Josef Geric: „,Baby, du wirst noch ein echter Wiener werden‘, hat sie zu mir gesagt, daran muss ich heute noch öfters denken“, erzählt der sich bestätigt fühlende ehemalige Kärntner.
Von der Obdachlosenbetreuung in die Obdachlosigkeit
Nach einigen Jahren wechselte Josef Geric die Branche. Er wandte dem Hippodrom den Rücken zu und begann, für einen Spirituosenerzeuger zu arbeiten, und ließ die eigenen Zügel locker: „Ich hätte berufliche Aufstiegschancen gehabt, doch das Herumziehen ist mir wichtiger geworden,“ gesteht der Straßenzeitungsverkäufer. Parallel zur Arbeit beim Destillateur wurde auch im Privaten der Alkohol wichtig, was er sich durch fehlende Beziehungen zu Frauen erklärt: „Viel Alkohol und keine festen Beziehungen, da scheißt man schnell aufs Leben.“ Mitte der 90er war dann die Obdachlosigkeit besiegelt. Pikanterweise hatte Josef Geric nur wenige Jahre zuvor noch ehrenamtlich Obdachlose betreut.
Sein Weg kreuzte jenen des Paters Georg Sporschill, der gemeinsam mit Schwester Grata Anfang der 1980er Jahre in Wien Obdachlosenhäuser gegründet hatte. Die Begegnung mit dem Pater prägte Josef Geric derart, dass er anfing, ehrenamtlich bei einem Projekt des „Georgie“, wie Josef den Pater zu nennen pflegt, mitzuhelfen: „Zwei Jahre lang bin ich fast täglich mit dem Canisibus mitgefahren, habe Suppe gekocht und ausgeteilt.“ Der Canisibus und sein Gesinnungsbruder, der Francescobus, sind fahrende Einrichtungen der Caritas, die abends, wenn die meisten Ausspeisungsstellen bereits geschlossen haben, Bedürftige mit Suppen versorgen.
Diese Kombination aus ehemaliger Mitarbeiter und später Klient der Caritas machte Josef Geric zu einem Experten in Sachen Obdachlosenbetreuung: „Ich weiß, es gibt Obdachlose, die sich nicht helfen lassen wollen, -die muss man schnappen!“ Unter schnappen verstehe er, intensiver auf sie zuzugehen und nicht bloß ein wenig zu plaudern: „Es ist wichtig, dass Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen den Obdachlosen zuhören und Vertrauen aufbauen. Wenn ein Mensch viele Jahre auf der Straße lebt, verliert er das Vertrauen zu den Menschen. Genauso wie ein wildes Tier, das ist scheu und lebt zurückgezogen. Es nimmt nur schnell das Fressen und ist gleich wieder weg.“ In diesem Atemzuge fordert er auch von der Gemeinde Wien, mehr Geld in die Obdachlosenbetreuung fließen zu lassen, betont aber, dass wenigstens die medizinische Versorgung durch den Louisebus (eine mobile Behandlungsstation für Menschen ohne Krankenschein, Anm.) „verhältnismäßig gut“ funktioniere.
Er selbst sei gesundheitlich durch die frühere Alkoholsucht schon schwer angeschlagen. „Ich möchte noch 10, 15 Jahre leben können“, lautet sein großes Ziel, denn er erlebe seinen „starken zweiten Frühling“. Vor zwei Jahren machte Josef Geric eine erfolgreiche Alkoholentziehungskur: „Meine Freundin hat viel dazu beigetragen. Eine bessere Therapeutin als sie gibt es für mich nicht.“