Ein Leben ohne Wohnung fordert ein Arrangement nach dem anderen
Rudolf Engel ist ein Augustinverkäufer, der in reger Interaktion mit seinen KundInnen steht. Er und sein Hund Gipsy geben den Menschen auf dem Weg zum Arbeitsplatz, der in den meisten Fällen ein Magistratsbüro ist, frühmorgens ein freundliches Wort und die Möglichkeit, ein Fell zu streicheln, mit. Im Gegenzug erhält der Kolporteur Geld- und Sachspenden und Informationen, die keine noch so aufwändige Medienanalyse ausspucken würde. Die InformantInnen geben gerne preis, dass der Augustin nicht mehr so links wie anfangs sei. So hörte Rudolf Engel auch schon lange nicht mehr: Ein Kommunistenblatt kaufe ich nicht, da geht mir das Geimpfte auf.Auf meine Frage, wie er seinen Wohnraum beschreiben würde, antwortet Rudolf Engel geradeheraus: Ganz einfach. Ich wohne in einem aufgelassenen Schacht. Dort habe ich alles, was ich brauche: eine Matratze und die Möglichkeit, mein Gewand aufzuhängen. Natürlich gibt es in diesem campingzeltgroßen Raum keinen Strom, kein Gas und kein fließendes Wasser. Nicht einmal das Futter für seinen Hund kann Rudolf Engel in seinem Zuhause, wie er das von ihm bewohnte Ende eines Schachtes zu nennen pflegt, lagern: Ich habe es versucht, doch die Mäuse knabberten sofort das Hundefutter an.
Man muss sich mit den Lebensumständen arrangieren und darf sich nicht hängen lassen, wiederholt der Augustinverkäufer mehrmals. Vor der Schachtzeit schlief er mit drei anderen in der Resselgarage am Karlsplatz. Um sieben Uhr früh, kurz vor Betriebsbeginn, hatte sich das Quartett aus der Garage zu stehlen, sie konnten jedoch ihr Hab und Gut dort tagsüber in ein Kammerl sperren: Der Garagenmeister duldete uns. Anders der Garagenbesitzer. Als einer aus dem Quartett in der Tiefgarage das Zeitliche segnete, meinte der Besitzer, nicht jeden Monat einen Toten in seiner Garage haben zu wollen.
Beim Herumspazieren entdeckte Rudolf Engel oben angesprochenes Schachtende, das er nun seit über vier Jahren bewohnt. Dort habe ich meine Ruhe. Und als Beleg dafür spricht er von lediglich zwei Polizeikontrollen: Ich musste beide Male meinen Ausweis herzeigen, und das war es, womit der Schachtbewohner den Polizisten auch ein Kompliment aussprechen möchte.
Mit Blaulicht Zeitung kaufen
Der Augustinverkäufer wird nicht müde, von solidarischen Mitmenschen zu erzählen. Er nennt zahlreiche Personen, die im Umfeld seines Verkaufsplatzes bei der U2-Station Rathaus ihren Arbeitsplatz haben und auf Vorschriften pfeifen, damit sie einem Wohnungslosen helfen können. Da wäre der Polizist, der mit dem Streifenwagen anhält und das Blaulicht aktiviert, um dem Augustinverkäufer eine Zeitung abzunehmen und dabei immer mit einem Geldschein bezahlt, sich aber nie rausgeben lässt. Da wären Arbeiter von der MA 48, die versperrbare Aufbewahrungsbehälter zur Verfügung stellten, die dem Augustinverkäufer so wertvoll sind, wie dem Millionär der Wandtresor. Da wäre der hochrangige Magistratsbeamte, der von Montag bis Freitag die Sanitäreinrichtungen seiner Dienststelle natürlich gegen die Vorschrift anbietet. Körperpflege ist beim Zeitungsverkauf das Wichtigste, findet Rudolf Engel, der mit diesem Statement bei Etiketten-Papst Thomas Schäfer-Elmayer offene Türen einrennen würde, und erläutert: Beim Verkaufen kann man sich nicht total verschlafen und nach Schweiß stinkend hinstellen da hast einen Kunden g’habt.
Im Zuge der Morgentoilette bekommt er von einer Magistratsbediensteten täglich noch eine Kanne Tee plus Mehlspeise, um bei Arbeitsbeginn um sechs Uhr früh gestärkt zu sein. Ich verkaufe immer bis zwölf Uhr. Nachmittags und sonntags mache ich nichts, denn ein Großteil meiner Kunden arbeitet in den Magistratsbüros und kauft am Weg in die Arbeit. An Samstagen geht Rudolf Engel seinem Geschäft der Zeitungskolportage am Kutschkermarkt im 18. Bezirk nach, denn eine Kollege musste aus gesundheitlichen Gründen diese Verkaufsstelle abgeben: Er hielt das lange Stehen nicht mehr aus.
Obdachloser Mensch trifft auf obdachlosen Hund
Eine Scheidung nennt Rudolf Engel als Grund, auf der Straße gelandet zu sein. Das geschah vor zirka zehn Jahren. Vorher hielt sich der gelernte Gärtner mit Gelegenheitsjobs über Wasser, wobei das Engagement bei einem großen Elektronikkonzern eines seiner längeren gewesen war: Wegen meinem Alkoholproblem haben sie mich dort nach drei Jahren gestanzt. Zurzeit habe er sich den Alkohol betreffend unter Kontrolle, das heißt für ihn, keinen Tropfen vor Arbeitsende zu trinken. Nachmittags gehe er viel spazieren. Da habe er auch Zeit, sich seinem Hund Gipsy, mit dem er seit zwei Jahren ein Team bildet, zu widmen. Im strömenden Regen stieß der Augustinverkäufer auf den Hund. Gipsy suchte mutterseelenallein unter der Rutsche eines Kinderspielplatzes Schutz vor dem himmlischen Nass und es kam ein Engel. Rudolf Engel nahm den kleinen Kläffer wenn sich jemand meinem Zuhause nähert, keift er, dass die Hölle los ist in seine Obhut und sieht in diesem Tier seinen wertvollsten Menschen, auch wenn er ein Hund ist. Das Wertvolle an Gipsy bezieht sein Herrl auf die emotionale Bindung, doch der Hundehalter verschweigt keineswegs die pekuniär wertvolle Seite von Gipsy. Der Hund erweist sich als guter Werbeträger, denn er erregt Aufmerksamkeit und ist für PassantInnen ein Anziehungspunkt. Bei HundesympathisantInnen sitzen die zwei Euro für die Zeitung relativ locker.
Vom Biberhaufen in den Prater
Rudolf Engel sieht sich selbst eher als Einzelgänger. Er kenne zwar ein paar andere Augustinverkäufer näher, doch das Vertriebsbüro suche er nur zum Zeitungholen auf. Abends zieht es ihn regelmäßig ins Café Pendel, das aufgrund der Eingangstürhöhe auch unter Bücke dich bekannt ist: Wie ein Trauerblümerl sitze ich nicht drinnen, damit gibt der Augustinverkäufer zu verstehen, dass ihm der Kontakt zum größtenteils studentischen Publikum Kurzweil verschafft, und der Wurlitzer mit den alten Hadern ist auch gut.
Aufgewachsen ist er in den Nachkriegsjahren im 22. Bezirk, genauer Am Biberhaufen, in einer Barackensiedlung, wo es keine Infrastruktur gegeben hat: Anfangs war unser Haus eine Blechbaracke, aus der mein Vater schön langsam ein Haus gemacht hat. In einer Blechbaracke hausen bedeutete in diesem Fall gerade einen Herd und Betten zu haben, die von Holzstützen und Wellblech umgeben waren. Mitte der 1960er Jahre reichte es dem Vater die Mutter starb schon 1949 nur acht Wochen nach Rudolfs Geburt und übersiedelte mit dem einzigen Kind in den zweiten Bezirk: Ich hatte zu dieser Zeit keine Arbeit und trieb mich daher viel im Prater herum. Dadurch sei er auch mit dem Gesetz in Konflikt geraten hauptsächlich wegen Raufereien und solchen Sachen wie Moped ausborgen, aber nichts Schlimmes, versichert der Zeitungsverkäufer.
Zurück in die Gegenwart. Rudolf Engel erhält monatlich 219 Euro Notstandshilfe. Mit dem Zubrot Zeitungsverkauf geht es sich irgendwie aus; dazu kommen noch regelmäßig Sachspenden wie Winterbekleidung. Der Hund wird aber bevorzugt, was dem Besitzer nur recht sei, denn so müsse er nur selten Hundefutter kaufen. Nur in einem Punkt ist ihm der Hund hinderlich, und zwar gibt es in Wien bloß ein Heim für Obdachlose, wo Hunde erlaubt sind, und dort stehen laut Rudolf Engel dreihundert Personen auf der Warteliste. Also heißt es für ihn weiterhin, im oberen Ende eines Schachtes zu wohnen: Ich bin in einer Baracke aufgewachsen und werde wahrscheinlich, bis ich in die Kiste steig, in einer Baracke wohnen müssen.