Der Hafen zu Albern oder Von den letzten DingenDichter Innenteil

Sedimente und Geschiebe sind keineswegs harmlos (Foto: Mario Lang)

Herr Groll auf Reisen, 348. Folge

Der Dozent suchte mit Herrn Groll den Alberner Getreidehafen auf. Er wolle ihm im Friedhof der Namenlosen und danach an der nahen Donau einige existenzielle Zusammenhänge eröffnen, kündigte der Kriminalsoziologe an. Sie parkten Grolls klapprigen Renault 5 ein und näherten sich dem Friedhof. Ursprünglich seien auf dem Gelände knapp fünfhundert Gräber durch ein Kreuz repräsentiert gewesen, um das Jahr 1900 aber wurde der vielen Hochwässer wegen, die den Friedhof regelmäßig verwüsteten, derselbe ein Stück weiter landeinwärts, umgeben von einem Damm, neu errichtet, sagte der Dozent.
«Daher die Rampe», sagte Groll und nahm Hilfe bei der Überwindung der steilen Friedhofszufahrt an. Oben angekommen, fuhr der Dozent fort. Im neuen Teil des Friedhofs gebe es, dem Namen des Friedhofs zum Trotz, auch etliche Namensgräber.
«Hier zum Beispiel haben wir das Grab einer Frau Gettler», sagte er und wies auf ein schlichtes gusseisernen Kreuz mit einem Namensschild. «Sie hat sich in der Donau ertränkt. Ihr Sohn kam mehrere Male in der Woche und trauerte an ihrem Grab. Er konnte partout nicht verstehen, wieso sie ihrem Leben ein Ende bereitet hatte. Die Frage quälte ihn so sehr, dass er sich eines Tages auf dem Friedhof erschoss. Er liegt dort hinten, schräg hinter seiner Mutter, bestattet.»
Das sei eine konsequente Haltung, der man den Respekt nicht versagen könne, erwiderte Groll.
«Lange Jahre erledigten der Gemeindepolizist und der Totengräber die Arbeit der Leichenbergung», fuhr sein Bekannter fort. «Die Aufnahme der Daten und die Bestattung oblag Herrn Molner, dem Totengräber. Dieser gewissenhafte Mann erledigte seine Arbeit durch viele Jahre zur vollen Zufriedenheit der Angehörigen, der Gemeinde, und ich nehme auch an, der Toten. Aber eines Tages erdrückte die Gewissenhaftigkeit den verdienten Totengräber, und so kam es, dass Herr Molner eine Pistole gegen sich selbst richtete.»
«Ich nehme an, er hat seine letzte Ruhestätte ebenfalls hier an der Donau gefunden», bemerkte Herr Groll.
«Selbstverständlich», erwiderte der Dozent.
Um diese Eindrücke in die Welt der letzten Dinge reicher, wandten die beiden sich dem Uferbegleitweg zu. Dabei passierten sie eine größere unbebaute Fläche. Durch Jahrzehnte habe an dieser Stelle das Restaurant Ettl Radfahrer, Wanderer und Trauergemeinden mit Donaufischen und bodenständigen Suppen verköstigt, berichtete Herr Groll. Im Jahr 2016 sei der Pächter in Pension gegangen und der Grundstückseigner, die Hafengesellschaft, habe nichts Besseres zu tun gewusst, als das traditionsreiche Gasthaus mitsamt dem Gastgarten unter uralten Kastanien zu schleifen. «Ich erinnere mich weiters, dass in den achtziger Jahren auf dem Hafengelände eine Behindertenwerkstätte in einer Sortierhalle eingerichtet war. Unter unerträglicher Hitze und bestialischem Gestank durften behinderte Menschen um ein monatliches Taschengeld Müll trennen. Es dauerte sehr lange, bis die Stadt Wien den Protesten behinderter Aktivisten und einiger Zeitungen nachgab und den Sklavenbetrieb schloss.» Am Ufer der Donau angelangt, erörterten die beiden noch Fragen des Sedimenttransports in Flüssen. Im Wasserbaulabor der Universität für Bodenkultur und den Christian-Doppler-Labors für Sedimentforschung und -management würden einschlägige Versuche und Studien durchgeführt*. Kurz streiften sie auch neuere Erkenntnisse, denen zufolge durch die Gletscherschmelze große Mengen an Radioaktivität von Atombombenversuchen in der Atmosphäre sowie den Supergaus von Tschernobyl und Fukushima frei werden, die ebenfalls in den Flüssen landen**. Auf dem Rückweg hielt Herr Groll seinen Wagen vor einem Bildstock in der Mannswörtherstraße an und bat den Dozenten, den dort angebrachten Text zu lesen. Der Dozent stieg aus und las laut: Tod, das hast du schlecht gemacht / Ein Schulbub fiel dir in den Schlund / Du hast zugebissen und nicht nachgedacht / Ein ewig´ Fluch sei deinem Mördermund! Er las auch den Zusatz: Am 13. März 1962 wurde der 12-jährige Schüler August Plaikner an dieser Stelle mit seinem Fahrrad von einem Lastwagen erfasst und überrollt. Er verstarb noch am selben Ort.
Wortlos stieg der Dozent ein, Herr Groll setzte den Wagen in Bewegung. Um diese Eindrücke von den letzten Dingen des Lebens reicher, kehrten die beiden in die Stadt zurück.

* Christine Sindelar, Leiterin des Wasserbaulabors der Universität für Bodenkultur, Kevin Reiterer und Thomas Gold, Studenten des Fachs Kulturtechnik und Wasserwirtschaft. In: Elke Ziegler Ö1-Wissenschaft, orf.at, 7. 4. 2019
** Caroline Clason, European Geosciences Union (EGU): Die Mengen seien potenziell gesundheitsgefährdend. orf.at, 10. 4. 2019
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