Herr Groll auf Reisen. 312. Folge
Herr Groll und sein Freund, der Dozent, spazierten in Bodensdorf am Ossiacher See den Uferbegleitweg entlang. Der Dozent wollte seinem Freund ein schlossähnliches Domizil zeigen, das jahrelang führenden ÖBB-Beamten und Managern als Urlaubsquartier diente und jetzt als Hotelbetrieb fungiert.
Wasser spendet Leben, nimmt es aber auch
Foto: Mario Lang
Der Dozent kam von einer Tagung der Walter-Buchebner-Gesellschaft* in Mürzzuschlag und hatte einen Artikel des «Kurier» mitgebracht, dessen Inhalt er Herrn Groll zu Ohren brachte. Ein neunundsechzig Jahre alter Rollstuhlfahrer sei bei Kindberg in der Mürz ertrunken. «Der Mann, der beidseitig oberschenkelamputiert war, dürfte aus dem Rollstuhl gerutscht sein – für ihn kam jede Hilfe zu spät», las der Dozent. «‹Kurz vor dreizehn Uhr verließ der Rollstuhlfahrer ein Lokal in Kindberg im Bezirk Bruck-Mürzzuschlag. Zwei Stunden später meldeten Passanten der Polizei, dass an der Uferböschung der Mürz ein leerer Rollstuhl stehe. Polizei und Feuerwehr fanden den Vermissten. Er dürfte beim Verrichten der Notdurft aus dem Rollstuhl gerutscht, über die steile Uferböschung in die Mürz gestürzt und ertrunken sein. Der Mann blieb bei einem Strauch hängen und wurde dadurch von der Strömung nicht mitgerissen. Der Notarzt konnte nur mehr den Tod durch Ertrinken feststellen. Die Polizei geht nicht von einem Fremdverschulden oder Selbstmord, sondern von einem unglücklichen Unfall aus›» Der Dozent reicht seinem Freund den Artikel weiter. «Was sagen Sie dazu? War das wirklich ein Unfall?»
Groll überflog den Text, lange blieb sein Blick auf dem Bild eines vorsintflutlichen Rollstuhls hängen. «Nein», sagte er mit fester Stimme. Es handelt sich hier um einen bedingten Totschlag oder einen Halbmord.»
«So etwas gibt es in der Kriminalsoziologie nicht», sagte der Dozent.
Dann solle man dieses Delikt in die Strafrechtssammlung aufnehmen, fuhr Groll fort. «Drei Sachverhalte sind zu klären. Erstens: Um welches Lokal handelte es sich? Es ist davon auszugehen, dass es über keine Behindertentoilette verfügt, wie es das Gesetz vorschreibt. Zweitens: Der Rollstuhl ist unfahrbar. Wenn man keine Beine hat, ist man in derartigen Kassenpanzern an jeder Bodenwelle sturzgefährdet. Drittens: Wie schauen die Vermögensverhältnisse des Toten aus? Gibt es eine Lebensversicherung? Wurden Passanten gesehen? Der Halbmord ereignete sich ja am hellichten Tag. Hörte jemand Schreie? Wie war der körperliche Zustand des Opfers? Neunundsechzig Jahre sind für Rollstuhlfahrer kein Todesurteil. Ich erinnere mich, dass voriges Jahr am Traunsee eine ältere Dame mit dem Rollstuhl in den See kippte und ertrank.** Auch in diesem Fall wurden keinerlei Ermittlungen angestellt, schon gar keine weiterführenden – wie oben beschrieben. Wenn Rollstuhlfahrer ertrinken, werden Verbrechen von vornherein ausgeschlossen. Werter Dozent, wir stoßen hier auf das Weiterwirken der uralten NS-Philosophie, behinderte Menschen sind letztlich doch lebensunfähig, wenn sie in das kühle Nass köpfeln und absaufen, kann das keine Gewalttat sein. Tatsächlich liegt eine solche aber vor. Zumindest mittelbar, das aber mit tödlichem Effekt.»
«Wie kommen Sie darauf?» Der Dozent hielt inne.
«Ganz einfach», sagte Herr Groll, der Rollstuhl Joseph einbremste. «Hätte es in dem Lokal eine Behindertentoilette gegeben, wäre der Mann noch am Leben. Und wäre er mit einem Rollstuhl versorgt gewesen, der auf seine Bedürfnisse abgestimmt gewesen wäre, hätte er nicht aus dem Hilfsmittel rutschen können. Ich stelle also fest: Das nicht funktionierende österreichische Antidiskriminierungsgesetz – keine effektive Klagsmöglichkeit, die Wirte zur Einhaltung der Barrierefreiheit zu zwingen, und keine ordentliche Rollstuhlversorgung. Der Gesetzgeber im Verein mit der Pensionsversicherung oder der Krankenkasse – je nach Zuständigkeit für den Rollstuhl – sind schuld am Tod des Mannes. Ich nenne das einen bedingten Totschlag oder einen Halbmord, da Vorsatz nicht auszuschließen ist.»
«Ich bezweifle, dass man die Sachlage so sehen kann», sagte der Dozent nachdenklich und setzte sich wieder in Bewegung.
«So und nicht anders», sagte Groll und hielt mit seinem Freund Schritt.
Anmerkungen:
* Walter Buchebner (1929–1964) war ein bedeutender österreichischer realistischer Schriftsteller
** Anfang September 2017 kippte in dem Hamburger Nobelvorort Blankenese ein Rollstuhlfahrer, der sich am Schiffsanleger auf der Suche nach einer Behindertentoilette befand, in die Elbe und ertrank. Seine Leiche ist verschollen.