Nora Amélie Sahr bespielt mit dem «Kong Wen» Straßen
Von einem chinesischen Lastendreirad begleitet führte Nora Amélie Sahr einen Grätzelspaziergang durch das Fasanviertel im dritten Wiener Gemeindebezirk. Der Augustin flanierte mit und wollte von der angehenden Architektin wissen, welche Wege ein chinesisches Lastenrad in Wien einschlagen könnte.
Foto: Irmgard Derschmidt
Was führt eine Architektur-Studentin nach Shanghai?
Ich bin mit großem Interesse nach Shanghai gegangen, um zu schauen, wie dort im Gegensatz zu uns hier das Straßenleben abläuft. Auslöser war ein Besuch aus Paris. Der Besucher meinte, es wirke, als sei hier (im Fasanviertel im dritten Wiener Gemeindebezirk, Anm.) eine Atomkrise ausgebrochen, denn niemand sei auf der Straße zu sehen. In diesem Moment öffnete sich ein Fenster eines Wohnhauses und eine Person blickte heraus, als wollte sie die Lage abchecken, ob eh alles in Ordnung sei. Daraufhin habe ich mir gedacht, wenn man andere Städte bereist und wieder nach Wien kommt, ist es wirklich schockant, weil hier nichts los ist. In Shanghai hat man das andere Extrem – die Straße als Lebensort, wo Handel, aber auch das alltägliche Leben stattfindet.
Die Straße ist ein wichtiger Bestandteil im Urbanismus, im Entstehen von Städten. Die Straße ist auch der Negativraum, der den gebauten Raum ausmacht, insofern hat das auch mit Architektur zu tun.
Und Lastenräder sind in den Straßen von Shanghai zu finden?
Zum einen gibt es einen Riesenbestand von Lastenrädern, zum anderen – und das wiederum ist das Architektonische – werden die Räder von Leuten so umgebaut, dass sie mobile Mikroarchitekturen in der Stadt sind. Je nachdem wie sie umgebaut worden sind, bilden sie Räume, und wenn sie sich gruppieren, entstehen Gefüge. Mein Interesse fiel somit auch auf die Lastenräder und auf die informellen Händler, für die das Lastenrad eine Grundlage für die Erwerbstätigkeit bildet. Diese Händler handeln auch oft in einer Grauzone des Wirtschaftssystems bzw. betreiben Schattenwirtschaft und müssen daher auch mobil sein, um vor der Straßenaufsicht flüchten zu können.
Wie bitte, das Lastenrad erfüllt auch den Zweck, um mit Sack und Pack abhauen zu können?
Ja genau, ich habe vor Ort aus meinem Fenster eine 24-stündige Filmaufnahme gemacht, wo man ganz gut sehen kann: Wenn die Straßenaufsicht auftaucht, packen die Straßenhändler schnell ein und verstecken sich für ein paar Minuten. Und von jenen, die nicht einpacken, weiß man, dass sie Schmiergelder zahlen. So bin ich halt beim Fahrrad gelandet, wobei für mich das Fahrrad immer schon Fortbewegungsmittel war und jetzt in Wien allgemein sehr zum Thema geworden ist. China ist sowieso die Nation der Fahrräder, wobei jetzt bewegt man sich dort weg vom Fahrrad, denn wenn man Geld hat, besorgt man sich ein Auto. Bei uns wird dieser Trend aber eher umgekehrt: Wenn man bewusst leben möchte, fährt man wieder Rad. Das Fahrrad steht somit auch als Sinnbild der Transformation einer Gesellschaft.
Du bezeichnest dein Lastenfahrrad als Kong Wen. – Was hat das zu bedeuten?
In China beschäftigen sich viele Künstler mit Schriftzeichen und Wortspielen. In diesem Sinne habe ich geschaut, was «Raum» auf Chinesisch heißt, nämlich K?ng Ji?n. Es handelt sich dabei um zwei Schriftzeichen, «K?ng» steht für «Leere» und «Ji?n» heißt «Zimmer» oder das «Dazwischen», also bedeutet «Leere», der «Raum dazwischen». Auch im Japanischen oder Koreanischen wird Raum über die Leere definiert.
Ich habe einen Strich in einem Schriftzeichen weggelassen, und ein Freund meinte, ich hätte dadurch ein gutes Wortspiel entwickelt, denn es würde nun nicht mehr das «Dazwischen» heißen, sondern «hinterfrage» (= wèn), also ist nur durch das Weglassen eines Striches eine völlig andere Bedeutung entstanden, nämlich «hinterfrage die Leere» – «K?ng Wèn». Das passte sehr gut zu meinem Standpunkt, dass nämlich die Straße der Leerraum der Stadt ist, da geht es aber nicht so sehr um Leerstand, sondern um die Leere zwischen den Gebäuden, zwischen der Fülle und wie sie bespielt wird und was sie für eine Stadt bedeutet.
Welche neuen Möglichkeiten der Nutzung siehst Du für Wiens Straßen?
In Shanghai ist es das Normalste auf der Welt, dass man zwischen zwei Bäumen auf der Straße eine Leine fürs Wäscheaufhängen spannt. Die Leute putzen ihre Zähne auf der Straße oder laufen im Pyjama rum. Sie kochen und spielen dort, sie haben zwar Gärten hinter dem Haus, aber sie sitzen am Gehsteig vor dem Haus. In Wien habe ich mich gefragt, warum kann ich mich nicht einfach auf den Gehsteig raussetzen, denn der Straßen- und Parkraum gehört eigentlich auch mir! Die Selbstverständlichkeit, dass in Wien 20 Prozent der öffentlichen Fläche parkenden Autos überlassen wird, sollte schon hinterfragt werden.
Wie soll nun das chinesische Lastendreirad in Wien zum Einsatz kommen?
Die Struktur des Lastenraumes vom Fahrrad soll den Bewohnern von Wien unterschiedliche Bespielungen zulassen – das ist der Gedanke dahinter. Ich biete also Leerraum an, der die Phantasie von Leuten beflügeln soll. In Shanghai wurde dieser Raum zwei Mal von Künstlern bespielt. In Wien habe ich eine Straßenküche, wie man sie in Shanghai immer wieder entdecken kann, mit der Freundin und Sinologin Katharina Idam, konzipiert. Wir servieren bereits seit mehreren Wochen in Wien an verschiedenen Orten chinesisches Straßenessen.
Wie ist die gewerbliche Situation, denn in Österreich ist bekanntlich alles überreglementiert?
Ich habe mich in der Branche informiert, und mir wurde gesagt: Viel Spaß, frühestens in einem Jahr wirst du darauf kochen können. Wir wollen aber kein Geld damit machen, es geht um die Erforschung der Straße, also geben wir auf Spendenbasis kalte Nudelgerichte aus und sind somit auch nicht gewerblich. Außerdem gibt es kein Gesetz, das mir verbietet, auf dem Lastenrad Gurken zu schnibbeln