Der neugierige JungeDichter Innenteil

Bild: © Büke Schwarz

Erlebnisse eines Wiener Berufsfeuerwehrmannes

Wir betreiben Schichtdienst, genauer gesagt, 24 Stunden Dienst, 24 Stunden frei. Da in so einem System unendlich viele Stunden zusammenkommen, haben wir dann auch mal Zeitausgleich, sodass wir gleich drei anschließende Tage zuhause verbringen dürfen. Natürlich sind wir auf Grund unserer Dienstschichten nicht immer anwesend, aber selbstredend ist stets dieselbe Anzahl an Personen, genauer gesagt 34 Feuerwehrbeamte rund um die Uhr in Dienst.
Ob der Junge mit den rehbraunen Augen, schwarzen Haaren, dunklem Teint und etwa 1,50 Größe, dieses System auch durchblickt hat? Oder war er einfach immer, tagtäglich hier und beobachtete unser Treiben im Innenhof? Er trug eine rote, zerschlissene Jacke, die ihm wohl um zwei Nummern zu groß war, seine Jeans hatten Löcher, allerdings nicht modebedingt, seine Marken-Sportschuhe waren sein großer Stolz. Jeden Tag erschien er in der selben Aufmachung.
Kaum war unser großes Ausfahrtstor, das guten Einblick in den gesamten Hof gewährte, geöffnet, stand er an einer der beiden Ecken und guckte herein. Bei jedem Wetter müssen wir Fahrzeugkontrollen durchführen, ob Wind, Eis oder Schnee, die praktischen Übungen werden abgehalten, da fährt die Eisenbahn drüber. Auch der Hitze trotzen wir und führen Reinigungsarbeiten an Geräten, Fahrzeugen und Hofinventar durch. Sooft ich im Dienst war und ich mich im Innenhof aufhielt, fiel er mir auf, der Junge mit den weißen Sportschuhen. Da er auch vormittags seine Zeit mit dem Beobachten des Feuerwehralltages verbrachte, schloss ich, der Junge musste ein Flüchtling sein. In unserer Nähe wird ein Notschlafquartier betrieben, daher war mir der Zusammenhang klar.

Unsicher blickte er mich an

Unsere großen Abfallcontainer stehen ziemlich nahe dem Ausfahrtstor. Die Biomülltonne ratterte, als ich sie über den Hof zerrte. Bei den Containern angelangt, bemerkte ich ihn wieder, es war gegen 10 Uhr vormittags. Ich winkte ihm, ließ den Kübel stehen und näherte mich ihm langsam.
Eigentlich erwartete ich, dass er vor Angst, Scham oder schlechtem Gewissen davonliefe, nichts von dem passierte. Unsicher blickte er mich an, er gestikulierte mit den Händen, was zusätzlich Unsicherheit ausdrückte, seine Beine zappelten ein wenig.
«Hallo!», waren meine ersten Worte.
«Wie heißt du?», probierte ich es weiter. Da er mich nur mit großen Augen ansah, dachte ich anfangs, er versteht mich nicht. Ich probierte es mit Englisch, wenn man meine ungeschulte Aussprache und katastrophale Grammatik überhaupt als Englisch bezeichnen darf. Aber gut, diese einfache Frage meisterte ich.
«Kenan!» Kurze Zeit Pause, ein kleines Lächeln huschte über seine Lippen und dann: »Und du?» Ehrlich gesagt war ich ein wenig überrascht, dass er mir auf Deutsch antwortete. Unsere Unterhaltung ging ein paar Minuten, dabei erfuhr ich, dass er vor sieben Monaten in Österreich angekommen war. Sein Fluchtweg dürfte Jahre gedauert haben, soweit ich es verstehen konnte.

Ständig, während er mir in gebrochenem Deutsch erzählte, sah ich mein eigenes Kind vor Augen. Könnte ich das ertragen? Würde ich es verstehen? Mein eigenes Leid könnte ich eventuell erdulden, aber das meines Kindes? Ich würde die Sinnhaftigkeit hinterfragen. Ein Kind wird 2000 Kilometer südlicher geboren und hat nicht einmal einen Bruchteil von dem, was unsere Kinder haben. Warum schätzen wir nicht, was wir haben? Da meine ich nicht unsere Sachgüter, wie Haus, Auto, teure Bekleidung etc. Ich möchte die Selbstverständlichkeit ansprechen, mit der wir unser alltägliches Leben führen.
Ich bot ihm ein Cola an und fragte ihn, ob er sich vielleicht ein paar Feuerwehrfahrzeuge ansehen möchte. Er wirkte plötzlich unsicher, trat von einem Bein auf das andere, lächelte kurz und lief davon. Kurz dachte ich, ob ich ihm zu nahe getreten sei, die Gedanken verliefen und ich widmete mich wieder meiner Tätigkeit. Die nächsten Tage folgte der vorhin angesprochene Zeitausgleich, meine Gedanken waren bei meiner Familie und ich vergaß den Jungen.

Ein anstehender Alarm

Voll entspannt trat ich wieder meine Dienstschicht an. Gleich morgens früh, etwa gegen 6.30 ging das Licht im Ausgleichsraum an und die Stimme im Lautsprecher zwang mich, ins Erdgeschoss zu laufen. Bei der Feuerwehr Wien wird auf allen Wachen ein anstehender Alarm mit Licht- und Akustiksignal angekündigt. Danach erfolgt die Durchsage, welche zuerst die Einsatzfahrzeuge, dann die Adresse und zuletzt die Einsatzart meldet, danach wird das gesamte Szenarium wiederholt.
«Hernals, Kommandofahrzeug, 1. HLF, TLF, Drehleiter und das 2. HLF; 16. Bezirk Thaliastraße xx; Notschlafquartier Samariter; TUS xxxx!», ertönte es aus dem Lautsprecher in unserem allgemeinen Aufenthaltsraum. Fast die gesamte Mannschaft musste ausrücken, ein Brandmelder hat in der Unterkunft der Flüchtlinge angeschlagen. In letzter Zeit sehr oft eine heikle Angelegenheit, immer wieder kam es zu kleinen Entstehungsbränden im Küchenbereich. Da sehr viele verschiedene Menschen auf kleinstem und engen Raum kochen müssen, gibt es manchmal Meinungsverschiedenheiten, die auch ausarten können und die leider manchmal mit Blessuren, Blutergüssen, aber auch mit Stichverletzungen endeten. Im Prinzip nicht unser Aufgabenbereich, obwohl natürlich bei Nichtanwesenheit des Rettungsdienstes, Erste Hilfe geleistet wurde, der Rest wurde von der Sicherheitswache (= Polizei) erledigt. Oft stellten wir auch bei unserem Eintreffen nur einen mutwillig eingeschlagenen Druckknopfmelder fest. Aber im Zuge der Streitereien brannte auch schon einige Male das Essen an oder es wurde aus Zorn oder Verzweiflung etwas angezündet. Da sich viele Personen, und ich spreche da an einigen Tagen von mehr als 150, in diesem Gebäude aufhalten und teilweise die akustischen Räumungssignale ignorieren, kommt es wirklich, vor allem bei starker Verrauchung, zu ganz heiklen Szenen.
TUS heißt nichts anderes als Tonfrequentes Übertragungssystem, welches die Aufgabe hat, wenn in einem Gebäude Alarm ausgelöst wird, diesen an die Nachrichtenzentrale, also an den Notruf 122 weiterzuleiten, von wo aus dann die nötigen Fahrzeuge alarmiert werden.

Aus dem Schlaf gerissen

Als ich mit einer halben Tasse Kaffee im Magen auf meinem Fahrzeug saß und auf weiteren Befehle wartete, beobachtete ich die wenigen Menschen, die den Räumungsalarm des Hauses befolgten und auf die Straße liefen. Frauen mit teilweise dünnen Verhüllungstüchern und Kinder mit Schlapfen, wo barfüßige Zehen hervorguckten, froren sichtlich, vermutlich aus dem Schlaf gerissen. In diesem Moment dachte ich wieder an den neugierigen Jungen, den ich vorige Woche angesprochen hatte. Meine Blicke schweiften im Kreise und suchten nach ihm, kein Erfolg. Kurzzeitig kam mir der Gedanke, dass er vielleicht gar nicht in diesem Haus untergebracht sei, verwarf es aber wieder, da ich doch sicher war, dass es in meinem Ausrückungsbereich das einzige war.
Da bei solchen Einsätzen immer nur die Besatzung des 1. HLF (Hilfslöschfahrzeug) in das Gebäudeinnere geht und die Erkundung durchführt, wusste ich den Grund des Einsatzes nicht. Handelt es sich nur um Kleinbrände oder eines der vorher beschriebenen Ereignisse, bleiben die anderen Kräfte draußen in Bereitschaft und rücken dann sobald wie möglich wieder auf ihrer Feuerwehrwache ein, damit die Schlagkraft für andere Einsätze in der Sektion gegeben ist.
Gegen halb acht war ich wieder auf der Wache und schlürfte meinen mittlerweile kalten Kaffee fertig. Später erfuhr ich, dass ein hängengebliebener Toast eine derartige unbemerkte Rauchentwicklung hervorgerufen hatte, dass er den im Küchenbereich montierten Rauchmelder auslöste.
Als ich vormittags im Innenhof unserer Feuerwehrwache tätig war, schweifte mein Blick immer wieder zum offenen Einfahrtstor, erfolglos. Ich dachte mir nicht viel dabei, eventuell hatte er heute andere Interessen, oder gar Verbot seiner Eltern, wenn er welche hatte. Ich versuchte mich zu erinnern, nein, von seinen Angehörigen hat er mir nichts erzählt. Er wird in den nächsten Tagen wieder auftauchen. Ich nahm mir vor, ihn auf alle Fälle wieder anzusprechen und ihm diesmal vielleicht erfolgreicher die Feuerwehr näherzubringen. Kollegen unterbrachen meine kleinen Hirngespinste und ich widmete mich meiner Aufgaben.

In den nächsten Tagen, an denen ich mich im Dienst befand, erwischte ich mich immer wieder dabei, dass ich mir Gedanken über den Jungen machte und ich mich fragte, wieso er nicht mehr kam. Ist ihm etwas passiert? Hätte ich ihn nicht anreden sollen? Dutzende solcher Fragen gingen mir durch den Kopf, vor allem natürlich, wenn ich mich wegen irgendwelchen Arbeiten im Hof befand und unser Zufahrtstor offenstand. Zwei Mal fuhren wir alarmbedingt in das «Flüchtlingsheim», wie es bei uns im Jargon genannt wird, auch da versuchte ich ihn zu finden. Von Tag zu Tag wurde ich unsicherer, ob ich ihn überhaupt erkennen würde. Ich versuchte mich an sein Gesicht, seine Körpergröße und Auffälligkeiten zu erinnern, es verschwamm alles ein wenig. Irgendwie konnte ich meine Gedanken mit niemanden teilen. Erstens leben wir in einer sehr rassistischen Welt, wo man für Sympathie für solche Kinder abgestempelt wird. Gut, das würde mir nicht so viel ausmachen, vor allem sind es Menschen, die solches verurteilen, nicht wert. Aber darum geht es mir gar nicht. Vielmehr würde ich darüber reden, wieso ein Kind uns tagelang beobachtet, und dann möchte man mit guten Vorsätzen dem Jungen etwas Gutes tun, was passiert, er kommt nicht mehr.

Was ereignete sich dann?

War er in seiner Welt glücklich? War es genau das, was ihn so begeisterte? Uns, alleine mit sich selbst, zu beobachten, vielleicht sogar mit der Hoffnung, wir würden ihn gar nicht bemerken? Was ereignet sich dann? Es kommt ein Wildfremder, einer von den Bösen, der ihn eh nicht in diesem Land haben möchte und spricht ihn an.
Ich möchte es kurz machen. Ich sah den Jungen bis dato nicht mehr. Keine Ahnung, was aus ihm geworden ist. Ich kann nur hoffen, dass es ihm gut geht und er ein einigermaßen normales Leben führen kann.
Mein Quintessenz aus diesem Ereignis. Ich würde ihn vermutlich wieder ansprechen, da ich Gefüchteten Gutes tun möchte. Vielleicht ist es der falsche Weg? Sollte man sie eventuell in Ruhe lassen? Sie ignorieren, als wären sie nicht da? Nein, dann wären sie diese Außenseiter, die sie sowieso sind, oder? Was sagt ihr?