Der «Orbit» erfordert Geschickvorstadt

Kendama, eine Holzkugel mit Loch, die mit einer Schnur an einem Griff befestigt ist, soll von Leopoldsdorf aus Österreich erobern.

Text: Franz Indowa

Europa, Japan und wieder retour. So könnte man die Verbreitung des Geschicklichkeitsspiels Kendama in Kurzform beschreiben. Lukas J. Beck lebt in Leopoldsdorf, in der Vorstadt, einen Steinwurf von Favoriten entfernt, und hat einen ehrgeizigen Plan: Er möchte Kendama in Österreich populär machen.
Wie hat das seltsame Teil aus Japan seinen Weg nach Leopoldsdorf gefunden? Und wieso soll es sich von dort aus im ganzen Land verbreiten? «Ich habe einige YouTube-Videos über Kendama gesehen, die mich begeistert haben», erzählt Lukas J. Beck. Fasziniert von den Tricks, beginnt er zu üben und hat seitdem nicht mehr zu trainieren aufgehört. Während wir miteinander sprechen, spielt er beständig mit seinem Kendama. «Bald habe ich durch das Kendama gemerkt, dass der technische Zeitvertreib mit Handy & Co. für mich nicht mehr so wichtig ist», beschreibt Beck einen, wie er findet, positiven Effekt der Kendama-Nutzung. Er führt es seinen Freunden vor, und statt mit dem Computer spielt seine Clique fortan mit ken und tama, also mit einem Griff und einer Kugel.

Faster Than Gravity.

Die Holzkugel in die Luft zu werfen, mit den cups (siehe Kasten) aufzufangen oder mit der Spitze aufzuspießen, ist in vielerlei Varianten möglich. Mehr als 1.000 Tricks gebe es, meint Beck und nennt ein paar Namen: Big Cup Spike, Orbit, Faster Than Gravity, Earthturns oder Aeroplane. Beim Orbit wird die Kugel in die Luft geworfen, anschließend kreist die Spielerin mit dem Griff einmal um die Kugel und fängt sie danach mit dem großen oder kleinen Becher wieder auf. Die einzelnen Tricks können wiederum miteinander zu neuen Tricks kombiniert werden, sodass die Möglichkeiten unendlich zu sein scheinen. Ein Trick bzw. eine Trickkombination gilt als erfolgreich abgeschlossen, wenn die Kugel mit dem spike am Ende aufgespießt wird.
Vielleicht würde in Österreich die Konnotation als Trinkspiel, die es früher in Japan gegeben hat, dem Kendama zu mehr Popularität verhelfen? Wer die Kugel fängt, bekommt ein Gläschen sake. Bei uns wäre das kulturell angepasst ein Obstler.

Freier Kopf.

«Im Moment übe ich gerade den Trick Border Balance», sagt Beck. «Dabei hält man die Kugel, wirbelt den Griff ein oder mehrere Male drum herum und spießt mit der Kugel den Griff auf.» Ein schwieriger Trick, der nur mit einem schon etwas abgewetzten Kendama möglich ist, weil die Kugel und die Spitze Grip brauchen, um nicht aneinander abzurutschen. Geduld, die Bereitschaft zu üben, und volle Konzentration sind jedenfalls gefordert, all das führt für Beck zu einem weiteren positiven Nebeneffekt der Kendama-Nutzung: «Wenn man mit dem Kendama spielt, kriegt man den Kopf so richtig frei.» Überhaupt: Mit Kugel und Griff zu hantieren, macht nicht nur Spaß, es wirkt sich auch positiv auf die Hand-Augen-Koordination aus, zudem werden die Reflexe trainiert. Nicht zuletzt bleibt man in Bewegung – eine Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat unlängst gezeigt, dass Jugendliche in Mitteleuropa sich viel zu wenig bewegen. Könnte Kendama eine Alternative bieten? «Es geht immer mehr in Richtung Sport», bestätigt Beck, denn inzwischen gibt es überall auf der Welt Wettbewerbe und Meisterschaften, in Japan werden sogar Weltmeister_innen gekürt.
Auch wenn er noch nicht Weltmeister ist, Lukas J. Beck hat längst Feuer gefangen und begonnen, unter der Marke Greendama in Handarbeit auf nachhaltige Weise Kendamas in Österreich zu produzieren: Seine Kendamas sind zu 100 Prozent aus heimischen Hölzern wie Buche, Nuss oder Ahorn gefertigt. Er gibt auch den Vertriebler und zieht von einem Laden zum nächsten. Im Jahr 2018 hat Beck Kendama Austria als Anlaufstelle für Interessierte in Österreich gegründet. In seinen Workshops vermittelt er neben den Tricks auch die Geschichte des Kendama.

Frankreich – Japan.

Interessanterweise wurden in unterschiedlichen Epochen und Regionen artverwandte Spielgeräte entwickelt: Das Ajagak der Inuit auf Grönland sieht ganz ähnlich wie das Kendama aus und wurde aus Walfischknochen gefertigt. Es war für die Inuit magisch aufgeladen und wurde bei Ritualen verwendet.
Einer der Vorgänger des Kendama ist das sogenannte Bilboquet, das aus dem Frankreich des 14. Jahrhunderts stammt. Im 16. Jahrhundert war Bilboquet in Frankreich allgemein bekannt, eine weitere Blütezeit hat es unter König Ludwig XV. im 18. Jahrhundert erlebt.
In Guatemala heißt heute ein ganz ähnliches Spielgerät Capuricho, in Mexiko wird es Balero genannt und ist dort – genau wie in anderen Ländern Lateinamerikas – populär. In Brasilien und Portugal verweist der aktuelle Name Bilboquê auf den französischen Hintergrund.
Über die Seidenstraße wurde das Bilboquet im 17. Jahrhundert bis nach Japan verbreitet, wo es im 19. Jahrhundert an Popularität gewonnen hat. Seitdem ist es Teil der japanischen Kultur und sogar mit einer anderen gesellschaftlichen Tradition des Landes verknüpft: Geishas haben das ken spitz zugeschliffen oder durch eine Metallspitze ersetzt, sodass das Kendama – etwa bei unerwünschten Zudringlichkeiten – zu einer dolchartigen Selbstverteidigungswaffe wurde. An solche Einsätze des Kendama ist heute nicht mehr zu denken.
Das Kendama wird im Land der aufgehenden Sonne aber Tag für Tag an Schulen verwendet. Ein Einsatzgebiet, das Lukas J. Beck wegen der Konzentrationsförderung auch bei uns für sinnvoll hält.

Von Manga zu Kendama?

In den letzten Jahren hat sich Beck die Ochsentour angetan und ist durch Schulen getingelt und hat für Kinder ab sieben Jahren Kendama-Workshops gegeben. Oder er hat auf Musikfestivals seinen Infostand aufgebaut und ein paar Tricks aus dem Handgelenk geschüttelt, um Kendama unter die Leute zu bringen. «Wenn ich heute bei einem Workshop frage, ob jemand das Kendama kennt, zeigen immer ein paar auf», so Beck. Vor ein paar Jahren blieben die Hände noch unten.
Die Chance auf eine weitere Verbreitung des Kendama dürfte bei uns recht gut sein, denn japanische Kultur ist in den letzten Jahrzehnten – insbesondere unter Jugendlichen – populär geworden. Auch in Wien gab es Manga-Festivals mit Tausenden Besucher_innen, und ein Comicladenbesitzer hat mir einst erzählt, dass er ohne Manga-Hype wohl schon zusperren hätte müssen. Wer weiß, vielleicht werden das in einigen Jahren auch die Betreiber_innen von Spielzeugläden mit analogen Spielen sagen? Ohne Kendama geht es vielleicht nicht. Das gilt auch für den Kendama-Fan Lukas J. Beck: Er hat sich im Zuge der Coronakrise zum Zivildienst gemeldet und ist bereits an einem Krankenhaus vor den Toren von Wien, in der Vorstadt, im Einsatz. Sympathisch. Egal, wo Beck ist: Das Kendama hat er sowieso immer dabei. Und Zeit für ein paar Tricks bleibt auch immer.

 

Kendama-Buch und Lexikon

ken = Griff, eigentlich: Schwert
dama bzw. tama = Kugel
ito = Schnur
big cup = Becher auf einer Seite des Griffes, zum Auffangen der Kugel
small cup = kleinerer Becher auf der anderen Griffseite
base cup = Becher an der Unterseite des Griffes
spike = Spitze

Es gibt mehr als 1000 Kendama-Tricks, 40 davon bildet Lukas J. Beck in seinem eben erschienenen Buch Kendama! Der Beginner-Guide für deinen Einstieg in die Welt des Kendamas. Spielerische Förderung von Koordination und Konzentration ab (Achse Verlag 2020, 86 Seiten, 20 Euro).
Einige Videos und weitere Infos: www.kendama-austria.at