Der Riss an den Grenzen EuropasArtistin

Die Graphic Novel «Der Riss» lässt Welten aufeinanderprallen

Die spanischen Journalisten Carlos Spottorno und Guillermo Abril haben eine aufwühlende Reportage vorgelegt.  Ihre Reise an der Peripherie des Europäischen ­Kontinents haben sie in einer Graphic Novel verarbeitet. Eine Rezension von Hans Bogenreiter.

Nach drei Jahren Arbeit brachten der spanische Fotograf Carlos Spottorno und der spanische Journalist Guillermo Abril 25.000 Fotos und fünfzehn Notizbücher über die Flüchtlingsschicksale an den Grenzen der Europäischen Union in eine verbindende Erzählform. Ausgehend von der spanischen Enklave Melilla, dem Außenposten der EU in Afrika, der von sechs Meter hohen Dreifachzäunen, Bewegungsmeldern und Wärmebildkameras abgesichert ist, reisten die beiden zu Grenzgebieten in Europa bis in die Arktis im Norden Finnlands, um die Ursachen und Auswirkungen der Fluchtbewegungen zu ergründen. Die nur farblich bearbeiteten Fotos wirken wie gemalt und schaffen so eine besondere Atmosphäre. Die von Ängsten und Strapazen geprägten Gesichter der Menschen wirken so noch intensiver.

Stolz und Scham.

Die Zeit zitierte unlängst den Schauspieler Willem ­Dafoe in Zusammenhang mit der politischen Dimension seines neuen Films ­The ­Florida Project unter anderem damit: «Es gibt keine Idee der Solidarität. Die Vorstellung, dass Wohlhabende eine Fürsorge für die sogenannte Unterschicht aufbringen sollten, ist verschwunden in einer Feier der Gier und des Gewinnstrebens.» Angesprochen sind hier die USA, es gilt aber auch für Europa, wo der Slogan «Refugees Welcome» nur mehr an längst vergangene Zeiten erinnert. In einem ebenfalls noch jungen Interview bemerkte die bosnische Journalistin und Herausgeberin des Flucht-Portals «Are you Syrious?» Nidžara Ahmetašević: «Flüchtlinge sind gezwungen, sich wegen ihres Status zu schämen.» Und Ernst Lothar, der österreich-jüdische Schriftsteller und Jurist, der vor den Nazis flüchten musste, formulierte ähnlich: «Fliehen hat etwas Beschämendes, und wer einen Stolz hat, spürt das.» Die Gesichter in Der Riss zeigen dies immer wieder in aller Deutlichkeit.

Eindringlich und erschütternd.

Ein Kleinkind in Rettungsweste, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, wird über die Reling gereicht. Drei Uniformierte, zwei diesseits, einer jenseits des rettenden Geländers, rahmen den Ausschnitt am Buchcover. Guillermo Abril berührte die dazugehörige Episode besonders. «Wir befanden uns an Bord eines Schiffes der italienischen Küstenwache, da war ein Notruf eingetroffen. Und das war eben diese erschütternde Szene, als die Menschen, die Flüchtlingsmigranten, gerettet wurden. Da waren auch kleine Kinder, Babys dabei. So waren es hier besonders die Schreie des Babys, das als erster Mensch gerettet wurde, die uns beeindruckt haben. Solche Erinnerungen bewahrt man für den Rest seines Lebens auf.»

So viel Empathie ist in Europa längst nicht mehr mehrheitsfähig. Sebastian Kurz beklagte bei seinem Deutschland-Besuch Anfang 2018 eine Hetze gegen Reiche und drängte in der Frankfurter Rundschau auf eine Korrektur der Fehlentwicklungen in der EU-Flüchtlings- und Migrationspolitik: «Die Grenzen zwischen Asyl- und Wirtschaftsmigration sind derzeit vollkommen verschwommen.» Es gehe darum, den Menschen in ihren Herkunftsländern zu helfen. Das hätte Kurz als österreichischer Außenminister vier Jahre lang umsetzen können. Als Kanzler macht er indes bei der Kürzung der Entwicklungshilfe Tempo.

In Der Riss wird die Situation in den Heimatländern der Flüchtlinge eindringlich und erschütternd illustriert. Die Perspektivlosigkeit und das aussichtslose Verharren in den Flüchtlingslagern treiben die Menschen dazu, sich tödlichen Gefahren auszusetzen. Verursacht wird das Elend in den Fluchtgebieten durch die immer größer werdende Unerbittlichkeit und Knausrigkeit, wenn es um Unterstützung geht, die Profitgier der Lebensmittelkonzerne und Waffenlieferanten der reichen Länder dieser Erde.

Facetten der Flucht.

Wie es ist, wenn ein Mensch alles hinter sich lassen muss? Wie viel Anstrengung es erfordert, um nicht zu verzweifeln, wenn einem in der Fremde nur Ablehnung oder sogar Hass entgegenschlagen, die Hoffnung auf einen Neubeginn nur ein Wunschtraum bleibt oder die Flucht bereits im Mittelmeer endet und die Hinterbliebenen im Ungewissen verbleiben müssen? Auch zur Vergegenwärtigung dieser Fragen lädt Der Riss ein. Der Band befasst sich mit allen Facetten der Flucht an den Rändern Europas. Die Autoren stellen aber nicht nur die Flüchtlinge und deren Helfer_innen in den Mittelpunkt, sondern auch Europas «Grenzschutztruppen» von Militär, Polizei und Zoll bis hin zu den Bürgerwehren. Hier prallen Welten aufeinander – die eine häufig geprägt von unerbittlicher Brutalität, die andere von verständnisvoller Mitmenschlichkeit.

Vor Jahrzehnten meinte ein deutscher Bischof sinngemäß: «Wir sollten Flüchtlinge wie Botschafter empfangen, sie unterstützen, über ihre Fluchtgründe befragen und die Missstände in ihren Heimatländern ansprechen.» ­Der Riss könnte auch als Appell dazu gelesen werden.

 

Guillermo Abril / Carlos

Spottorno: Der Riss

avant-verlag 2017

176 Seiten, 32 Euro

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