Zugegeben: Es war eine Schnapsidee, obwohl nichts Hochprozentiges im Spiel war, auch kein Midnight Special*. Schließlich reichten auch die üblichen alkoholischen Getränke, also Bier und Wein beim Stammwirt.
Es ist außerdem nicht mehr zu eruieren, wer in dieser lauen Sommernacht zuerst den Einfall hatte, zu später Stunde die neue Rutsche im Freibad auszuprobieren. Die laue Sommernacht spielte dabei den Lockvogel. Einige Jahre davor war ein Ausflug ins Wasser nicht so angenehm gewesen. Ebenfalls angeheitert im nämlichen Gasthaus war erstmals das Lied «Irgendwann bleib ich dann dort» erklungen. Da STS zu diesem Zeitpunkt hier wenig bekannt war, stritten zwei Freunde darüber, ob das Lied von Stefanie Werger oder von Wolfgang Ambros gesungen wurde. Der Verlierer sollte ins Staubecken des Kleinkraftwerkes, das die Energie fürs Wirtshaus lieferte, springen. Mangels Google war damals die Frage nicht zu klären gewesen und so waren beide, in einer kalten Novembernacht, ins kühle Nass gesprungen, durchaus gerechtfertigt, denn es hatte ja keiner die richtige Antwort parat gehabt.
Nun war die Lage doch beträchtlich verlockender. Wir waren schließlich sieben Übermütige, die sich aufmachten. Als wir den Zaun übersprungen hatten, bildeten wir einen verschworenen Kreis, so wie es Sportteams vor einem besonders wichtigen Spiel machen, und ich erklärte als frischgebackener Doktor der Rechtswissenschaften dem Team, dass wir nun Handlungen setzen werden, die eindeutig Gesetze verletzen werden. Nächtliche Ruhestörung? Besitzstörung? Erregung öffentlichen Ärgernisses? Welche Übertretung ich konkret nannte, ist mir nicht mehr in Erinnerung. Ziemlich sicher bin ich mir aber, dass Hausfriedensbruch in meiner Aufzählung fehlte, genau aus diesem Grunde wurden jedoch die Toten Hosen im Juni 2018 beim Genuss eines ähnlichen nächtlichen Vergnügens – frei nach ihren Hits «Tage wie diese» und «Weil du nur einmal lebst» – von der Dresdner Bäder GmbH angezeigt. Es werde kein Unterschied zwischen Prominenten und Unbekannten gemacht, erklärte dazu deren Geschäftsführer. Schließlich kam es doch zu einer gütigen Einigung, nachdem die Band eine Spende von 5.000 Euro angeboten hatte. Bei mir ernteten Die Toten Hosen, die ich erst durch meinen Sohn so richtig schätzen lernte, dadurch weitere Pluspunkte, weil sie sich ihren jugendlichen Überschwang à la Forever Young bewahrt hatten. Am Wasser bleibend, honoriere ich neben ihrer klaren Ablehnung neonazistischer Umtriebe auch ausdrücklich die Unterstützung der Hosen für Sea-Watch, wobei sie sich ausdrücklich gegen die Kriminalisierung von Lebensrettern im Mittelmeer verwahrten.
Im Höllentempo
Wieder zurück ins vorige Jahrtausend: Sehr lautstark wurde vereint die Ausführung unseres Plans besiegelt. In unserem abenteuerlustigen Zustand wurde wohl kein Gedanke an die Möglichkeit, bei dieser Gesetzesübertretung ertappt zu werden, verschwendet. Schnell entledigten wir uns, der für unser Vorhaben überflüssigen, Klamotten und stiegen die Treppe der Rutsche rauf. Die Bildung einer bobartigen Formation geschah so, als hätten wir es schon jahrelang eingeübt. Sofort nahmen wir ein beträchtliches Tempo auf. Die mit Tau überzogene Rutschbahn war schneller als im Badebetrieb mit Wasserführung. Im gefühlten Höllentempo ging es also talwärts und wir schlugen wie eine Bombe im Wasser ein. Niemand dachte an eine Verletzungsgefahr, also wieder rauf und wieder hinunter ins Vergnügen. Offensichtlich war der Einschlag unserer Sechserbombe so laut, dass einige Marktbewohner_innen dadurch aus dem Schlaf gerissen wurden und sich veranlasst sahen, die in solchen Fällen üblichen Schritte zu setzen. «Hearst as net?», hat möglicherweise der/die zuerst Aufgewachte zum Bettnachbarn gesagt. Diese Frage ist auch der Titel eines sehr eindringlichen Liedes von Hubert von Goisern, welches die tibetische Aktivistin Tseten Zöchbauer eines Tages im Radio hörte, sofort davon fasziniert war, weil sie dabei an den langen Weg in die Freiheit in ihrer Heimat dachte, dann gleich den Hubert anrief und ihn für die Sache Tibets gewann. Und Tseten begrüßte mich vor vielen Jahren in Wien mit «Griaß di», voll original meinem Dialekt, mir blieb der Mund vor Stauen offen, weil ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, dass ihr damaliger Mann ein Mostviertler war.
Basta, zurück ins nächtliche Vergnügen. Wir staunten nicht schlecht, als plötzlich zwei Scheinwerfer auf unser Treiben gerichtet wurden. Möglicherweise dachten wir uns, es würden sich andere Risikofreudige unserem Schildbürgerstreich anschließen, aber nein, plötzlich näherten sich uns zwei Gesetzesvertreter. Blitzschnell versuchten wir uns zu verstecken. Das halbe Team war so geistesgegenwärtig, seine Kleider zusammenzuraffen und durch ein Loch im Zaun, das mir nicht bekannt war, zu türmen. Offensichtlich etwas beduselt brauchte ich etwas länger, um mir einen Überblick zu verschaffen, jedenfalls waren meine Kleider nun schon in Reichweite der Gendarmen und so zwängte ich mich völlig blank durch das Loch im Zaun und versteckte mich dann hinter den Büschen. Der alte Landgendarm steuerte auf den Kleiderhaufen des restlichen Teams zu und fand alsbald in einer Hosentasche ausgerechnet meine Geldbörse samt Dokumenten. Er freute sich stehend offensichtlich einen Hax`n aus, als er sah, hier einen Titelträger in flagranti erwischt zu haben. Sein beträchtlich jüngerer Kollege machte jedoch eher den Eindruck, als sei ihm der nächtliche Einsatz eine ziemlich lästige Pflicht. Der ältere Gesetzeshüter ist mir als Gentleman in Uniform in Erinnerung geblieben, was ja nicht so selbstverständlich ist. Nun kannte er aber kein Erbarmen und ich kann es ihm nicht mal verdenken. Da hatte er doch glatt einen Doktor der Rechtswissenschaften auf frischer Tat ertappt, so kurz vor seiner Pensionierung. Was er nicht wusste und nie mehr wissen wird: Beim Stammwirt wurde der Bezirksrichter fast überredet, mitzukommen, doch dann obsiegte die Rechtschaffenheit bzw. ein schon fixierter Auftritt des Akkordeonorchesters beim Frühschoppen, am nächsten Morgen.
Mit Genuss
Der Inspektor sprach meinem Namen samt Titel sehr betont und mit Genuss aus. Ich fröstelte bereits nackt hinter den Büschen und gab angesichts der Preisgabe meiner Personalie das Versteckspiel auf. Als er mir meine Geldbörse, die meine Identität so schnöde offenbarte, überreichte fragte er mich süffisant, ob ich wisse, was er in Ausübung seiner Amtsgewalt nun tun müsse. «Eine Organstrafverfügung ausstellen», gab ich reumütig zu. «Richtig», bemerkte er lakonisch und händigte mir den Wisch breit lächelnd aus. Auch meine Freunde Gerti** und Rolf wurden so vom Arm des Gesetzes getroffen. Rolf war übrigens nicht mitgerutscht, was ich im Trubel nicht bemerkt hatte. Gerti trug auch die Schuhpaare der Geflüchteten. Doch der Ordnungshüter hatte euphorisiert seinen kriminalistischen Spürsinn aufgegeben: Als ihm Gerti treuherzig versicherte, dass wir alleine wären, ließ er es dabei bewenden.
Es sollte aber zu einem Nachspiel kommen: Am Sonntagmorgen, verbreitete sich die nächtliche Aktion im Ort wie ein Lauffeuer, wobei offensichtlich stets miterwähnt wurde, dass ein «Doktor» auch dabei gewesen war. Von den in Frage kommenden Titelträgern im Ort kam ich allerdings nicht einmal in eine engere Auswahl. Zu frisch war mein akademisches Upgrade des Magisters. Bei der Ausforschung spielte die Frage «Welchem Doktor ist so ein Lausbubenstück zuzutrauen?» eine große Rolle und so fiel die Wahl auf Wilhelm, der noch am ehesten für so was in Frage kam. Dieser baute sich dann am nächsten Tag vor mir auf, als ich im Bad (legal) in der Sonne lag. Sein großer Schatten fiel auf mich. «Geh mir aus der Sonne!» habe ich wohl nicht gesagt. In meiner Erinnerung lud er seinen Ärger in etwa so ab: «Na, das hast du ja wieder mal toll hingekriegt. Du hattest das Vergnügen und verdächtigt werde ich.» Hinter uns lag die Sonnenterrasse, wo die Trübung unseres Verhältnisses seinen Anfang genommen hatte: Beim mit großem Ehrgeiz ausgetragenen Tennisturnier war ich auf der Brüstung des Sonnendecks über den Tennisplätzen gelegen und sah einen Ball, zum Nachteil von Wilhelm, außerhalb der weißen Linie und schrie einfach spontan «Aus». Ja, zugegeben, nicht gerade die feine englische Art eines Badegastes den Ausgang eines Tennismatches zu beeinflussen. Der Schiedsrichter ließ sich nämlich eventuell von mir, einem ausgewiesenen Banausen des Spiels mit der gelben Filzkugel, zur selben Entscheidung verleiten. Wilhelm, der sich mit seinem Partner Chancen auf einen Sieg im Doppelbewerb ausrechnete, hatte daraufhin die Nerven und das Spiel verloren. Beim folgenden Abschlussfest des Tennisklubs hatte er mir eine handfeste Abreibung versprochen, die aber mangels meiner Anwesenheit ausblieb. Erst ein paar Jahrzehnte später erfuhr ich von einem weiteren, damals kursierenden Gerücht: Es wären auch Ausländer dabei gewesen. Schließlich wären «Bloßfüßige»*** durch den Ort gelaufen …
*Für mich hatte sich hinter dem eingängigen Songtitel ein Cocktail um Mitternacht verborgen. Oh Schande aber auch. Das kommt davon, wenn man die englische Sprache nur sehr rudimentär erlernt. Der Titel bezieht sich nämlich auf einen Güterzug, den ein einsamer Häftling um Mitternacht an seinem Zellenfenster vorbeifahren sieht und der für ein paar Augenblicke etwas Licht spendet. Das Traditional wurde in den 1920er-Jahren erstmals auf Tonträgern aufgenommen. 1934 nahm der Bluesmusiker Leadbelly im Gefängnis eine Version des Songs auf; Creedence Clearwater Revival machten ihn zum Hit. Auch die schlechte Kost im Knast wird thematisiert: «Es gibt zwar Messer und Gabel, aber nichts am Teller. Und wenn sich jemand beschwert, bekommt er Probleme.»
** Alle hier verwendeten Vornamen sind vom Autor bewusst frei erfunden.
*** Abwertender und rassistischer Ausdruck für Bewohner_innen südlicher Regionen, denen zugeschrieben wird aus Armut und/oder Unzivilisiertheit kein Schuhwerk zu tragen.