Transnistrien – ein Land, das niemand anerkennen will
Wie lebt es sich in einem Staat, der offiziell gar keiner ist? Eine abstruse Frage? Christian Kaserer (Text und Fotos) besuchte jedenfalls die Grenzregion zwischen Moldawien und der Ukraine, umgangssprachlich Transnistrien genannt, und somit einen solchen Staat, den es offiziell nicht gibt.
Als die Sowjetunion zu Ende der 1980er-Jahre hin zerfiel, entstanden überall neue Länder, die bemüht waren, ihre nationale Identität zu finden. Auch in Moldawien gab es diese Bestrebungen, und ein nicht unerheblicher Teil der neuen Politik suchte einen Zusammenschluss mit Rumänien. Immerhin verbindet beide Staaten nicht nur eine gemeinsame Geschichte, sondern ebenso eine gemeinsame Sprache. Als die Regierung sich dann 1989 dazu entschloss, fortan nur noch Rumänisch als Landessprache anzuerkennen, begann es in zwei Regionen zu brodeln. Das im Süden lebende Turkvolk der Gagausen erwirkte sich von der Zentralregierung in Chișinău die volle Autonomie. Die Transnistrier_innen allerdings gaben sich damit nicht zufrieden. Historisch bedingt leben dort mehrheitlich Russ_innen und Ukrainer_innen mit den Moldawier_innen zusammen, und seit jeher war das Russische hier keine von oben verordnete, sondern eben die normale Umgangssprache. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg überdies konnte man mit Rumänien wenig anfangen, waren es doch die rumänischen Faschist_innen, die noch vor den Deutschen unzählige Jüd_innen, Roma und Sinti nach Transnistrien deportierten, um sie dort zu töten.
Auf dem blutigen Weg zum Staat.
Im August 1990 erklärten hunderte Deputierte aus allen Regionen Transnistriens sich für von Moldawien unabhängig, der UdSSR zugehörig und nannten ihr Land die «Pridnestrowische Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik». Ein unhandlicher Name, der bereits im November 1991 mit dem absehbaren Ende der Sowjetunion in «Pridnestrowische Moldauische Republik» (PMR), kurz Pridnestrowje, abgeändert wurde. Anfang März 1992 schließlich begannen Truppen Moldawiens mit dem Versuch, sich die abtrünnige Region mit Waffengewalt wieder einzuverleiben. Als sich nach einem Monat der Kriegshandlungen Berichte über Massaker häuften, entschloss sich die 14. sowjetische Armee, für Umbenennung und Abtransport hatte man in Moskau noch keine Zeit gefunden, eigenmächtig auf Seiten der Transnistrier_innen einzugreifen, wodurch es im Juli schließlich zu einem Waffenstillstandsabkommen kam. Zurück blieb ein Streifen Land, in Größe und Form dem Burgenland nicht unähnlich, mit inzwischen etwa 475.000 Bewohner_innen, der zwar eine eigene Währung, eine Armee und eine Flagge hat, dem jedoch die internationale Anerkennung fehlt. Die Einhaltung des Waffenstillstands sichern seither übrigens russische, ukrainische, transnistrische sowie moldawische Truppen mit diversen Checkpoints. Eine Mission, die in ihrer Zusammensetzung einmalig auf der Welt ist.
Die eigene Identität.
Es scheint fast so, als lebte in Transnistrien die Vergangenheit fort. In jedem noch so kleinen Dorf findet man neben der überall hängenden Staatsflagge mit Hammer und Sichel eine Lenin-Statue und zumeist direkt dahinter das örtliche Kulturhaus. In Betrieb sind sie freilich nicht mehr alle, doch wenn, dann bieten sie das Programm einer üblichen Volkshochschule an. Offizielle Gebäude sind durch bunte sowjetische Mosaike geschmückt, und auch die fast schon wie Kunstwerke anmutende Bushaltestellen stammen noch aus alten Tagen. Die Erinnerung ist ein Kitt, der die transnistrische Gesellschaft zusammenhält und eine Identität schafft. Auch Russland spielt hier eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die russische Flagge weht von allen staatlichen Einrichtungen, neben transnistrischen Militärbasen sind auch russische ein häufiges Bild in den größeren Städten, und die wenigen Touristenshops verkaufen mit Vorliebe Nippes mit Putin darauf. Das macht in der Erzählung Sinn, denn ohne Russland wäre man ein Teil Moldawiens geworden, und so wundert es nicht, dass bereits ein Referendum für den Zusammenschluss mit Moskau sowie mehrere parlamentarische Abstimmungen positiv ausgingen. Offizielle Reaktionen gab es aus dem Kreml allerdings keine.
Ein Konzern macht sich den Staat.
1993 gründeten zwei ehemalige Polizisten die private Firma Sheriff, mit der sie die gleichnamigen und einzigen Supermärkte im ganzen Land betrieben und sich langsam auf andere Sektoren ausbreiteten. Als der seit 1990 amtierende Präsident Igor Smirnov Anfang des neuen Jahrtausends dann den flächendeckenden Verkauf von Staatseigentum beschloss, schlugen die Sheriffs zu. Fragt man heute Personen beispielsweise in der Hauptstadt Tiraspol nach Sheriff, so bekommt man nicht selten zu hören, dass ihnen alles im Land gehören und nahezu jeder für sie arbeiten würde. Ganz abwegig ist das nicht. Der auch bei uns nicht unbekannte Spirituosenproduzent KVINT gehört der Firma ebenso wie das gesamte Netz an Tankstellen, alle nennenswerten Radiosender, sämtliche TV-Stationen sowie Telekomunternehmen und die einzige nicht-staatliche Bank. Auch Teile der Industrie und die Landwirtschaft sind von Sheriff kontrolliert, da ein großer Teil der Weizen- und Sonnenblumenfelder, Bäckereien und mit Tirotex ein auch in ganz Europa verkaufender Textilhersteller zum Konzern gehören. Fußballenthusiast_innen ist überdies der FC Sheriff Tiraspol ein Begriff, dessen eigenes Stadium über 100 Millionen Euro gekostet haben soll. Während öffentliche Krankenhäuser herunterkommen, eröffnet Sheriff inzwischen private Spitäler für jene Transnistrier_innen, die es sich leisten können. Es mutet wie ein Treppenwitz der Geschichte an, doch kann man sagen, die drei Säulen der transnistrischen Gesellschaft sind Lenin, Kulturhäuser und Sheriff. Einzig das auch im Europavergleich nicht unwichtige Stahlwerk MMZ und die Energieerzeuger, die auch Strom in die Ukraine und nach Moldawien liefern, wurden durch russische Unternehmen aufgekauft. Auch wenn oft von guten Kontakten zwischen dem Präsidenten und Sheriff gesprochen wurde, war man mit dem isolationistischen Kurs des Präsidenten nicht mehr einverstanden. So gründete das Unternehmen im Jahr 2000 die Partei Erneuerung, die 2005 bereits 23 von 43 Sitzen im Parlament erringen konnte. 2011 wurde Smirnov bei der Direktwahl zum Präsidenten von einem unabhängigen Kandidaten geschlagen, dessen Anliegen die Öffnung und Demokratisierung des Landes war. Nachdem Erneuerung bei den Parlamentswahlen 2015 aber insgesamt 34 der 43 Sitze im Parlament erringen konnte, wurden Korruptionsvorwürfe gegen den unabhängigen Präsidenten Shevchuk laut. Die Präsidentschaftswahlen 2016 verlor er dann gegen seinen der Sheriff-Partei angehörenden Widersacher Vadim Krasnoselsky. Das Sowjetland war nun auch politisch endgültig im Griff von Sheriff und mit der Verhaftung des einzigen kommunistischen Abgeordneten Mitte 2018 entledigte man sich eines unangenehmen Fragestellers.
Und die Menschen?
Mit einer Kamera fällt man auf in Transnistrien. An der Grenze hat man zu erklären, ob man nun einfacher Tourist oder doch Journalist sei. Als Schreiberling nämlich bräuchte man zur für Ausländer_innen obligatorischen Migration Card mit persönlichen Daten sowie spätestem Ausreisedatum zusätzlich noch eine Akkreditierung. In den Städten dann wird man angesehen und nicht selten neugierig von Einheimischen angesprochen. Woher komme man? Was mache man hier? In Kontakt kommt man mit den wenigen, die einigermaßen Englisch sprechen können, also recht schnell, und fragt man gerade die Jüngeren danach, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen, lauten die Antworten meist gleich. Gut gehe es ihnen, sie hätten ja zu essen und ein Smartphone, was bräuchten sie denn mehr? Und in der Zukunft, da wollen sie studieren, am besten in Russland, und wenn das nicht funktioniere, dann eben in Tiraspol, wo man sich dann selbständig macht oder aber, wenn alle Stricke reißen, eben bei Sheriff anfängt.■
Von Christian Kaserer erscheint Ende Oktober im Guernica Verlag: Transnistrien – Ein Einstieg. Roadtrip durch die letzte Sowjetrepublik, 120 Seiten, 14,99 Euro