Der Sound der StummfilmeArtistin

Filme waren nie stumm, heißt es. Stimmt das? Über den Klang der tonlos bewegten Bilder.
Text: Ruth Weismann, Foto: Carolina Frank

Eine Frau mit hellem, eckig geschnittenem Pagenkopf tanzt mit Schleiern und im Minikleid auf einer üppig dekorierten Bühne. Es ist Salomé, die für den König Herodes performt. Die Band schlägt Tambourin, ein Musiker spielt die Harfe. Doch hören tut man das nicht. Was man hören kann, sind Versionen von Nachvertonungen des Stummfilms Salomé von 1922, etwa die berühmte Komposition von Charlie Barbe. Dieser griff die bildlichen Vorgaben der Film-Band auf und komponierte ein rhythmisches Stück für Stimmen und Schlagwerk, das mit einem präzisen Tusch endet, wenn die Tänzerin sich zu Boden fallen lässt.
Der Stummfilm, der Anfang der 1930er-Jahre vom Tonfilm abgelöst wurde, erlebt schon seit vielen Jahren eine Renaissance. Immer mehr Kinos bieten Stummfilmvorführungen mit Live-Musik (in Wien sind die Breitenseer Lichtspiele dafür berühmt), und Festivals geben Kompositionen in Auftrag. Dass das Genre sich wieder großer Beliebtheit erfreut, konnte man auch am Erfolg des französischen Spielfilms The Artist von 2011 sehen, der das Schicksal zweier Stummfilmstars in der Übergangszeit zum Tonfilm thematisiert.
Sound zum Film. Was 1895, als die Brüder Lumière den 35-mm-Cinématographe vorstellten, technisch noch nicht möglich war: Bild und Ton synchron abzuspielen. Dennoch: Der Stummfilm war meist nicht stumm, wie die Musikwissenschaftlerin Maria Fuchs, die an der Universität für Musik und Darstellende Kunst lehrt und zu Stummfilmmusik forscht, betont.
Musik, die zu den Vorführungen gespielt wurde, war von Anfang an ein tragendes Element. Ihre Aufgabe: illustrieren, begleiten und unterstützen, was auf der Leinwand geschieht. Zu einer Zeit, als man die Schauspieler_innen nicht sprechen hörte, keine Schritte im Sand knirschten und keine Türen knallten, war neben der Expressivität von Gesichtern und Gesten die Funktion von Musik oft noch illustrativer, als sie das heute im Tonfilm ist. «Dadurch, dass das Medium stumm ist, muss die Musik – bis auf die Zwischentitel – die Aufgabe der Sprache übernehmen. Bedeutungen verdoppeln, kontrapunktieren, zerstören, verstören, verstärken», erklärt Fuchs. Aber nicht nur Musik im Kinosaal steuerte Ton bei. Auch Erzähler, die dem Verständnis der Geschichte nachhalfen, wurden oft engagiert. Es ging und geht bis heute um die Frage, welche Wirkungen Musik herstellen kann.

Welche Musik für welche Stimmung?

Bei den ersten Filmvorführungen wurde musikalischer Dramaturgie allerdings noch wenig Beachtung geschenkt. Pianist_innen oder schlicht Grammophone spielten die bekanntesten Opern- und Operettenstücke. Damit gab man sich bald nicht mehr zufrieden. In den ersten Zeitschriften, die sich mit Film beschäftigten, war die Debatte um Filmmusik breit, so Fuchs. Es wurde moniert, dass die Musikstücke oft nicht passten, dass etwa zu Trauerszenen lustige Nummern gespielt wurde. Man begann, Kompendien zusammenzustellen, um die Musik den Bildern auf der Leinwand anzupassen. Ob spannend, lustig, melancholisch, süß, ob leise oder laut, ob mit Geige, Piano oder gleich einem Orchester – ein und derselben Szene können völlig unterschiedliche Stimmungen gegeben werden.
Ein mechanisches Instrument, das verschiedene Musikstücke sowie auch Laute erzeugen konnte, war der Photoplayer. Er imitierte Geigen und Orgeln, hupte wie ein Auto, pfiff wie eine Lokomotive, und war als Stummfilmbegleitung sehr beliebt. Von Hand mussten die zu den jeweiligen Szenen passenden Knöpfe gedrückt werden. Verlage gaben Kataloge heraus, in denen eigens komponierte oder bereits existierende Musikstücke nach Szenen-Kategorien wie Liebe, Kampf, etc. aufgelistet waren. «Das funktionierte wie Samples», so Maria Fuchs. Für die Live-Musiker_innen gab es auch Cue-Sheets, also Listen, in denen Musikvorschläge zur Begleitung bestimmter Filme gemacht wurden.
Viele Musikerinnen erzählen, dass sie zu Stummfilmen improvisieren. Allerdings habe jede_r für sich schon gewisse Floskeln erarbeitet, und die Filme böten Topoi an, sagt Fuchs. «Wenn man etwa an Slapstick denkt, da rennt immer irgendwer jemandem hinterher. Straßenlärm kommt oft vor, Züge, Bewegung. Natürlich weiß man schon, was man da musikalisch machen kann.»
Live-Vertonung heute. «Zuallererst wird das Filmmaterial gesichtet, wobei ich wichtig finde, dass das unbeeinflusst durch bereits bestehende Vertonungen passiert, sprich: Der Film wird ohne Ton angesehen», erklärt Heidelinde Gratzl dem AUGUSTIN ihren Zugang zur Live-Vertonung von Stummfilmen. Die Akkordeonistin spielt beim Akkordeonfestival in Wien gemeinsam mit Thereministin Pamelia Stickney zu Salomé von Charles Bryant – der Film mit oben beschriebener Tanzszene. Beim stummen Ansehen werden erste musikalische Ideen gesammelt. «Manche Sequenzen bedürfen des mehrmaligen Anschauens, um die Parameter Dynamik, Emotion, Intensität, Geschwindigkeit und den dazugehörigen Spannungsbogen zu begreifen», so Gratzl. Für sie ist es bereits der achte Stummfilm, für den sie komponiert bzw. in Kooperation das musikalische Konzept erstellt – alle für das Akkordeonfestival.
Salomé verliebt sich in Jochanaan. Als dieser sie abweist, fordert sie von Herodes Jochanaans Kopf – dafür, dass sie für den König tanzt. Gratzl findet den Film faszinierend, «weil die Figuren in einer grotesken, dekadenten Ästhetik dargestellt werden und einen starken Kontrast zu der biblischen Thematik bilden. Als seiner Zeit weit voraus gilt sicher die Besetzung, bestehend aus größtenteils bi- bzw. homosexuellen Schauspielerinnen und Schauspielern.» Die Produktion war ein kommerzieller Misserfolg und ein Skandal, wurde aber in Kunstkreisen gelobt.

Ökonomische Fragen.

Zu Salomé gibt es verschiedene Kompositionen, die erst später geschrieben und aufgenommen wurden. Stummfilme wurden damals von Kino zu Kino unterschiedlich vertont, zu einigen Filmen aber auch originale Filmmusiken geschrieben. Als erste gilt Camille Saint-Saëns Komposition von 1908 für Die Ermordung des Herzogs von Guise. Hans Erdmann schrieb die Partitur zum ersten Horrorfilm der Geschichte, Friedrich W. Murnaus Nosferatu, Gottfried Huppertz komponierte für Metropolis von Fritz Lang. Was aber nicht hieß, dass jedes Kino, das diese Filme zeigte, die Kompositionen dazu spielen ließ.
Denn, so Maria Fuchs: «Es war eine ökonomische Frage.» Nämlich jene, was sich das jeweilige Kino leisten konnte. Es gab wohl Vorführungen in kleinen Vorstadtkinos, wo der Film wirklich stumm war, da Musikbudget einfach nicht drin war. Filmvorführungen mit Phonographen oder Grammophon, oder sogar Pianist_innen, die aus Katalogen spielten, waren schon das next level. Und bei schicken Premieren oder in ganz großen Kinos gab es sogar Orchester.
Neben dem Berufszweig des Kinopianisten und der Kinopianistin entstanden so auch die Filmpalastorchester mit eigene_r Kapellmeister_in. Ob man eine Anstellung als Kinokapellmeister_in bekam, hing allerdings nicht nur vom Budget des Filmpalasts ab, sondern auch vom eigenen. «Die Kinokapellmeister wurden nach ihrer Ausstattung ausgewählt, also nach dem Umfang des Notenmaterialias, das sie besaßen. Die Noten mussten sie sich selbst kaufen», so Fuchs. In so einem Orchester zu spielen war eine Prestigesache. «In Wien gab es nicht so große Kinos, aber in Berlin gab es viele Orchester in Filmpalästen, die fest angestellt waren. Im UFA-Palast am Zoo hatte das Orchester 80 Mann. Die Mitglieder waren zu der Zeit wahrscheinlich wichtiger als die Berliner Philharmoniker.»

Akustik im Filmpalast.

«Man kann sich vorstellen, wie viele Musiker, Arrangeure, Dirigenten durch die Einführung des Tonfilms arbeitslos wurden», wird der Dirigent Frank Strobel 2008 in der Frankfurter Rundschau zitiert. «Mit großen Orchestern könnte man in heutigen Kinos nicht mehr spielen», sagt er weiter. Die Akustik sei dafür zu trocken, die alten Filmpaläste hätten ganz anders geklungen. Stummfilmvertonungen mit Orchester finden heute daher in Konzertsälen statt. In kleiner Besetzung, mit Piano oder Akkordeon klingt es aber auch im Kino von nebenan schön. 

Film-Matinéen mit Live-Musik

Für das Akkordeonfestival kuratierte Claus Tieber sonntägliche Stummfilm-Matinéen:
Michael (1924): Stefan Sterzinger (Akkordeon), Franz Schaden (Kontrabass), am 1. März
Salomé (1922): Heidelinde Gratzl (Akkordeon), Pamelia Stickney (Theremin), am 8. März
Melies in Farbe (1902–1906): Walthe Soyka (Akkordeon), Karl Stirner (Zither), am 15. März
The Extra Girl (1922): Franziska Hatz (Akkordeon), Tino Klissenbauer (Akkordeon), am 22. März

Jeweils um 13 Uhr im Filmcasino, 5., Margaretenstr. 78
Tickets: 16 Euro
akkordeonfestival.at

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