Der Spitzensport, das Mittlere, die Liebe. Eine Geschichte vom WörtherseeDichter Innenteil

Wiener Ausfahrten Nr.76

An einem milden und freundlichen Maitag saßen Groll und sein Freund, der Dozent, in der Erholungsanlage der Eisenbahner in Pörtschach am Ufer des Wörthersees. Groll beobachtete durch sein Fernglas den See und seufzte in regelmäßigen Abständen auf. Der Dozent las in der Neuen Zürcher Zeitung. Als Groll besonders tief seufzte, legte der Dozent die Zeitung beiseite und wandte sich Groll zu.Darf ich Ihren Missmut, der sich, wie ich mit einigem Grund vermute, daraus speist, dass an Seen keine Frachtschiffahrt anzutreffen ist, für einen kurzen Moment unterbrechen?

Groll setzte das Fernglas ab.

Hier steht, dass Österreich, lange Jahre Schlusslicht bei der Verabreichung von Schmerzmitteln, seit Mitte der neunziger Jahre aufgeholt und hinter Dänemark und Kanada mit 46 Kilo Morphin pro eine Million Einwohner den dritten Rang einnimmt *), fuhr der Dozent fort. Dem Schmerz als gottgewollte Prüfung wird im katholischen Österreich eine deutliche Absage erteilt. Das ist doch ein interessanter Befund.

Groll sah den Dozenten mit ernster Miene an und nickte.

Man könnte sich darüber freuen, sagte der Dozent und schlug ein Bein über.

Er lädt mich zu einem Gespräch ein, dachte Groll. Mir ist aber nicht nach Reden zumute. In derselben Zeitung steht nämlich auch zu lesen, dass die Frachtschifffahrt auf der Donau einen drastischen Rückgang zu verzeichnen hat.

Wenn Sie dazu noch bedenken, dass das österreichische Gesundheitssystem trotz vieler Probleme noch immer hochklassig und nach wie vor relativ egalitär ausgerichtet ist und wenn Sie schließlich noch in Rechnung stellen, dass Österreich eines der wenigen europäischen Industrieländer ist, in dem alle Parteien, selbst grüne, liberale und rechtsextreme, aktive Sterbehilfe ablehnen, dann müssen Sie zugeben, dass die Republik auch zivilisatorische Erfolge aufzuweisen hat, fuhr der Dozent fort.

Das mag stimmen, sagte Groll. Man kann das erwähnen, man muss es aber nicht feiern.

Kaum hatte Groll den Satz beendet, setzte er das Fernglas an die Augen. Am Angerer Spitz hatte sich ein kleines Arbeitsschiff vom Ufer gelöst und strebte ruhig dem Pörtschacher Ufer zu. Ein Lächeln huschte über Grolls Gesicht. Beide schwiegen. Nach einiger Zeit entwickelte sich dann ein zaghaftes Gespräch über die Originalität von Texten und deren Bedeutung. Bei nicht wenigen künstlerischen Hervorbringungen sei das Werk oft über dessen Schöpfer zu stellen, sagte Groll. Bei herausragenden literarischen Texten zum Beispiel seien die Texte auf eine gewisse Weise immer klüger als ihre Produzenten, mehr noch, es handle sich dabei um ein zentrales Qualitätsmerkmal.

Sie meinen, gute Autoren sind immer dümmer als ihre Texte?, fragte der Dozent und musterte Groll mit einem skeptischen Blick.

Es sei dies eine Parallele zum Spitzensport, bekräftigte Groll. Wenn Spitzensportler philosophisch abgeklärt daherredeten, dann sei es mit den sportlichen Fähigkeiten der Betreffenden nicht weit her. Mit einiger Sicherheit habe man es in solch einem Fall mit Blendern zu tun. Der Dozent erwähnte den österreichischen Schwimmer Markus Rogan. Der sei ein Mann von Weltklasse, und er falle durch kluge und ironische Interviews auf. Groll widersprach. Rogans Auslassungen gingen in keinem Fall über mittlere Wahrheiten und Derivate des Hausverstands hinaus. Wäre es anders, könne er nicht so schnell schwimmen. Selbst der alte und erfahrene Michael Schumacher habe sich kaum zu intelligenten Aussagen über das Rennfahren aufgeschwungen, und er teile diese Eigenart mit anderen Meistern seines Fachs wie Ayrton Senna und Niki Lauda. Bei Björn Borg, Pete Sampras und Roger Federer, den zu ihrer Zeit jeweils besten Tennisspielern, verhalte es sich ähnlich: begnadete Athleten, aber bejammernswerte Gesprächspartner. Ihm sei überhaupt nur eine einzige Ausnahme bekannt. Der berühmte österreichische Existenzialphilosoph und Libero der Fußballnationalmannschaft, Anton Pfeffer. Ende der neunziger Jahre habe dieser Mann anlässlich eines Qualifikationsspiels der österreichischen Fußballnationalmannschaft gegen Spanien in Valencia Österreich lag zur Pause null zu fünf zurück **) auf die Frage eines Reporters, was denn nun von der zweiten Hälfte zu erwarten sei, mit dem legendären Satz Na, hoch werden wir das Spiel nicht mehr gewinnen! geantwortet. Daraufhin seien Pfeffer zwei Lehrstühle für Philosophie in Meran und Poysdorf und die Leitung eines renommierten philosophischen Verlags in Deggendorf/Bayern angeboten worden, was der noble Mann aber ausgeschlagen habe.

Vom Angerer Spitz näherte sich ein Paddelbootfahrer. Ein alter Mann, wie Groll im Fernglas feststellte, aber ein Paddler von hoher Kultur. Seine Bewegungen waren anmutig und kraftvoll und gleichmäßig wie ein Uhrwerk. Groll und der Dozent schauten dem Mann so lang zu, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Dann schwiegen sie.

Anmerkungen:

*) Dr. Maria Korak-Leiter. Neuere Entwicklungen in der Schmerztherapie, Vortrag beim 37. Internationalen Kongreß Schmerztherapie in der Intensivmedizin, Berlin Karlshorst, Anna Seghers Zentrum für Anästhesiologie und Palliativmedizin, 4. 5. 2007, Tagungsband; sowie Gianna P. Caracciola Intensive care units in civil wars, Pricic, FYROM (Macedonia), p. 46 56 (17. 3. 2007), www. pricic-science. com

**) das Spiel endete 0:9