«Der Sport hat uns verbunden»vorstadt

Anatolii Bardizh verkauft den Augustin und gewinnt einen Marathon – mit dem Rollstuhl. Er und seine Lebensgefährtin Anna Frankiv erzählen von ihrem Leben als Sportler:innen und über ihre Heimat, die Ukraine.

INTERVIEW: SYLVIA GALOSI
DOLMETSCH: DAVID KAPANADZE
FOTO: MARIO LANG

Ihr habt im September sehr erfolgreich am Big-Hearts-Marathon in Moldawien teilgenommen. Wollt ihr davon berichten?
Anatolii Bardizh: Ich habe den ersten Platz beim Marathon belegt und Anna hat beim Halbmarathon teilgenommen. Die 42 Kilometer bin ich in drei Stunden und 14 Minuten gefahren.

Anna Frankiv: Chişinău ist eine schöne Stadt! Wir haben uns dort ein bisschen wie zuhause gefühlt, durch die Nähe zu unserem Heimatort (Mykolaijw, Ukraine, Anm. d. Red.). Sie hat eine magnetische Atmosphäre, einen eigenen Charme.

Anatolii Bardizh: Die Marathon­strecke ist auf der normalen Straße, wo sonst Autos fahren. Es gibt Löcher im Boden­belag und es geht etwas bergauf und bergab, das ist nicht optimal. Mit dem Rollstuhl spielen diese Faktoren eine große Rolle, denn du kannst sehr leicht umkippen.

Anna Frankiv: Dann bremst du mit der Nase. Du musst immer darauf schauen, die Vorderräder rechtzeitig anzuheben und zu manövrieren.

Wie hat eure Sportkarriere begonnen?
Anna Frankiv: Von 2003 bis 2011 war ich professionelle Fechterin, musste aber wegen eines Rückentraumas damit aufhören. Ich bin seit acht Jahren im Rollstuhl, weil ich Cerebralparese habe.

Anatolii Bardizh: Im Unterschied zu Anna hatte ich als neunjähriges Kind ­einen Unfall und bin seitdem im Rollstuhl. Mit 20 Jahren habe ich andere Sportler kennengelernt und zuerst mit Leichtathletik begonnen, später mit Halbmarathonfahren weitergemacht. Seit 2012 fahre ich die volle Distanz, aber mit einigen Jahren Unterbrechung, denn ich habe für die Ukraine bei den Paralympics im Langlauf teilgenommen. Dabei werden an den Rollstuhl statt Reifen ­Skier montiert und mit Stöcken angetrieben. Aber das war nicht meins, ich habe mich dabei verletzt und bin wieder zurück zum Marathonfahren gewechselt.

Wie habt ihr es geschafft, den Sport professionell auszuüben?
Anna Frankiv: Wir haben uns 2009 bei einer Veranstaltung unseres Sportvereins kennengelernt. Im Prinzip hat uns der Sport verbunden. Wir haben uns angefreundet und irgendwann entschieden zusammenzuleben. Ich habe den Sport mit Kunst verbunden: Ich sticke, male und arbeite mit verschiedenen Materia­lien. Anatolii hat trainiert und ich habe angefangen, Sponsoren für seine Wettbewerbe zu suchen.

Anatolii Bardizh: Dieser Sport wird in der Ukraine staatlich nicht viel unterstützt, ist aber ziemlich teuer. Wir mussten selbst private Sponsoren finden. Über die Sportvereine haben wir uns die Ausrüstung und Reisekosten erkämpft.

Anna Frankiv: In der Ukraine gibt es nicht überall Unterstützung für Menschen mit Behinderung. Manche Regio­nen sind nur auf spezielle Sportarten ausgerichtet und der Fokus liegt mehr darauf, die Jugend zu fördern; die ­Älteren müssen selbst für die Kosten aufkommen.

Anatolii Bardizh: Anfangs bin ich mit einem sehr schlechten Rollstuhl gefahren. Als ich 2000 den Hauptbewerb in Kiew gewinnen konnte, habe ich durch den Sportverband einen professionellen dreirädrigen Sportrollstuhl bekommen. Mittlerweile ist er abgenutzt und steht zuhause bei meiner Mutter in einem besetzten Gebiet, es ist quasi schon «Ausland». Mit meiner Mutter telefoniere ich ein Mal in der Woche zu einer bestimmten Zeit. Sie muss dafür auf einen Hügel, wo die Netzverbindung gut ist, steigen, was aber wegen der russischen Soldaten nicht immer möglich ist.

Wie geht es euch in der aktuellen Situation mit der Familie im Kriegsgebiet?
Anatolii Bardizh: Ich bin traurig. Es ist schrecklich, mit der Angst zu leben, dass Bomben fallen.

Anna Frankiv: Jederzeit kann die ­Sirene läuten. Wir haben beschlossen, dass wir uns dort verstecken, wo die dicksten Wände sind, denn mit den Rollstühlen konnten wir nicht in den Keller.

Anatolii Bardizh: Wir haben drei Monate in Angst gelebt. Wir wollten bleiben, aber wir konnten nichts für das Land tun. Also haben wir entschieden zu fahren und sind im April nach Wien gekommen.

Anna Frankiv: Wir sind mit einer Gruppe aus unserer Region im Bus gefah­ren: zuerst nach Rumänien, 18 Stunden, und von dort noch 15 Stunden nach Wien. Die Fahrt war von der städtischen Verwaltung organisiert. Es waren ­Frauen, Kinder und Menschen mit Behinderung mit Begleitpersonen dabei.

Wie war es für euch, hier anzukommen?
Anatolii Bardizh: Ein anderes Land, viel Neues, viel Interesse …, aber Ruhe und Stabilität – das waren meine ersten Eindrücke.
Anna Frankiv: Wir haben immer davon geträumt, viel zu reisen. Aber wir hätten nie gedacht, dass es unter solchen Umständen passiert und wir so lange im Ausland bleiben. Am Anfang hatte ich viele unterschiedliche Emotionen.

Anatolii Bardizh: Wir haben unterwegs nach Wien schon einige Menschen kennengelernt. Wir sind gemeinsam in ein Caritas-Wohnheim nach Floridsdorf gekommen und haben so viele ­Kontakte geknüpft.

Anna Frankiv: Dass so viele Menschen unsere Sprache gesprochen haben, hat das Ankommen erleichtert. Das erste Mal, dass ich verstanden habe, dass wir im Ausland sind, war bei einer Inte­grationssportwoche. Dort haben wir mit Menschen mit Behinderung aus unterschiedlichen Ländern eine schöne Zeit verbracht. Hier fühle ich mich nicht als behinderter, sondern als ganz ­normaler Mensch. In der Ukraine geben dir die Menschen viel stärker das Gefühl, behindert zu sein. Das liegt daran, dass es hier viel barrierefreien öffentlichen Verkehr und Geschäfte gibt. Dafür kommt jetzt eine andere Form der Behinderung dazu: Durch die Sprachbarriere ­komme ich mir manchmal vor, als wäre ich gehörlos. Aber diese Barriere ist ja durch unseren Sprachkurs überwindbar.

Was hilft euch jetzt gerade?
Anatolii Bardizh: Kontakte, ­Freunde. Wir sind aktiv in der Sportgruppe, ­machen Ausflüge auf die Donauinsel, in Museen. Über einen Kontakt konnten wir auch in unsere aktuelle barriere­freie Wohnung einziehen. Der Weg in die ­Arbeit ist für mich von hier nicht weit. Der Augustin erleichtert unsere finan­zielle Situation. Durch das Verkaufen habe ich auch Motivation bekommen, Deutsch zu lernen und mehr zu kommunizieren.

Anna Frankiv: Ich tanze in einem Rollstuhlverein zwei Mal pro Woche, was auch durch das Einkommen und die sozialen Kontakte über das Augustin-Verkaufen ermöglicht worden ist. Es hilft, dass den Menschen hier ­unsere Situation nicht egal ist. ­Beispielsweise sagte eine Frau bei der Lebensmittel­ausgabe: «Anna, wenn du kommst, scheint die Sonne noch heller.» Solche Kleinigkeiten helfen weiterzuleben. Die Mehrheit der Menschen ist offen und hilfsbereit, nicht aus Mitleid, sondern aus Solidarität.

Was wünscht ihr euch für die Zukunft?
Anatolii Bardizh: Dass wir nachhause kommen, wo Friede ist.

Anna Frankiv: Dass alle unsere Verwandten überleben. Natürlich wollen wir nach Hause! Nicht weil wir Patrio­ten sind, wir sind dort aufgewachsen und zuhause.

Anatolii Bardizh: Hier wollen wir zuerst so schnell wir möglich die Sprache erlernen, das löst automatisch viele andere Probleme. Und natürlich nicht mit Sport aufhören! Ich bin fast 50, aber ich fühle mich so gut, dass ich bis 65 weitermachen will.

Anna Frankiv: Ich möchte weiterhin Künstlerin bleiben und durch die neue Umgebung Inspiration sammeln. Und die Situation für uns beide positiv nutzen.

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