Der «Volksgemeinschafts»-Dünkeltun & lassen

Ein Interview über Rechtsextremismus

Ein «Volk» ohne Konflikte, gibt es das? Konflikte kämen immer wieder von außen, sagen viele, und weisen auf die üblichen Sündenböcke hin. Im Moment sind die beliebtesten angeblichen Schadensbringenden Flüchtlinge und «der Islam». Kerstin Kellermann im Interview mit dem Rechtsextremismus-Forscher Andreas Peham.

Foto: Christoph Modrbacher

Wie konnte es so weit kommen, dass sich viele Menschen inzwischen mehr vor Flüchtlingen fürchten als vor Rechtsextremen?

Diese Verschiebung von gefühlter und realer Bedrohung, und die Tatsache, dass Neonazismus und Rechtsextremismus nicht mehr in diesem Ausmaß als gefährlich angesehen werden, ist Teil des Rechtsruckes. Dieser Rechtsruck und diese Verschiebung wurden nicht nur von der extremen Rechten im eigenen Interesse forciert, sondern vor allem haben auch die massenhaft gelesenen Boulevard-Medien fleißig mitverschoben, wenn wir bei dem Bild bleiben.

Tatsächlich steht die irrationale Angst vor Geflüchteten im Widerspruch zur realen Angst der Geflüchteten und den Zahlen, die wir vom Innenministerium bekommen. Diese besagen nämlich, dass sich die Anzahl von gewalttätigen Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte von 2015 auf 2016 verdoppelt hat. Derartige Angriffe werden aber selten in der Form besprochen wie etwa die Morde Ende Juni in Linz: Selbst wenn FPÖ und Boulevard gemeinsam behaupten, der Tunesier hätte das Ehepaar aus islamistischen Motiven getötet, so bleibt das einen ungesicherte Behauptung. Dieser psychisch schwer belastete Mann tötete ein ihm bekanntes Pensionisten-Ehepaar. Es bleibt die Frage, ob einzelne Vertreter der Polizei, wider besseres Wissen, die Morde für den Boulevard und die FPÖ als IS-Terror qualifiziert haben. Gleiches gilt für die Amokfahrt in Graz.

Es geht bei Rassismus und Antisemitismus nie um Realität, es geht um Bilder und um Bedrohungsszenarien, die im Fall des Islamismus aber zumindest auf internationaler Ebene einen wahren Kern haben. Islamismus und Dschihadismus sind international eine Gefahr, aber in Österreich ist der Neonazismus eine größere Gefahr und auf politischer Ebene der Rechtsextremismus. Diese Wahrheit zu verdecken, ist aus Perspektive der extremen Rechten durchaus logisch, und sie machen das leider mit Erfolg – das Bedrohungsbild hat sich ausgetauscht.


In diesem Zusammenhang denken viele, zumindest wenn man sich im Internet umschaut, dass Leute der AfD und andere Rechtsextreme die besseren Beschützer_innen von Juden und Jüdinnen wären …

Das ist natürlich Demagogie. Man braucht im Fall der AfD und der FPÖ nur auf den Antisemitismus in den Reihen dieser beiden Parteien hinweisen. Vorfälle sind da keine Einzelfälle, sondern haben System. Das Systematische am Antisemitismus beider Parteien liegt im Völkischen, das sie repräsentieren. Zum Völkischen hat sich sogar die gar nicht so weit rechts außen stehende Frauke Petry bekannt, als sie verlangte, dass «das Völkische», sozusagen als Begriff, rehabilitiert werden soll. Es gibt das Völkische aber nicht ohne das Antisemitische.


Wie hängt das Völkische mit Antisemitismus zusammen?

Im Zentrum des Völkischen steht nicht das Individuum wie im Liberalismus, sondern das Volk – aber nicht als politische Gemeinschaft verstanden, sondern als «natürliche Abstammungsgemeinschaft». Dieses «Volk» bildet dann eine homogene Gruppe, in der es angeblich keine Konflikte gibt. Diese Vorstellung steht aber im Widerspruch zur Realität und funktioniert einfach nicht. Das zeigte auch der Nationalsozialismus ganz deutlich. So eine Gemeinschaft kann nur mit Zwang hergestellt werden, indem zum Beispiel die Gewerkschaften verboten werden und divergierende Interessen unterdrückt werden. Dann gibt es Homogenität. Das traut sich aber heute keiner sagen.

Die Forderung nach Volksgemeinschaft eint beide Parteien, und dieser Volksgemeinschafts-Ideologie liegt der Antisemitismus zugrunde. Denn es stellt sich die Frage, wie man dann die Realität mit all ihren sozialen Konflikten, Geschlechter-Konflikten oder Generationen-Konflikten erklären kann. Wie kann man alle diese Konflikte begründen, wenn man so einem Volksgemeinschafts-Dünkel anhängt? Indem man die unterschiedlichen Interessenkonflikte zum Werk von Sündenböcken erklärt! Als solche bieten sich bis heute vor allem Juden und Jüdinnen an, die seit jeher als jene halluziniert werden, die von außen und gleichzeitig innen die Gemeinschaft «zersetzen» würden. Das ist das Antisemitische an dieser Volksgemeinschafts-Ideologie. Die kommt auch aktuell nicht ohne Antisemitismus aus. Der Antisemitismus ist also in der Weltanschauung dieser beiden Parteien verankert, aber nach außen herrscht das Bekenntnis vor, gegen Antisemitismus zu sein. Auf diese Weise geht dann diese Inszenierung auf. Dass nämlich Juden keine besseren Beschützer als die Rechtsextremen hätten.


Wie spielt der Nahost-Konflikt in diese Inszenierung hinein?

Die Beschützer-Ideologie besitzt einen gewissen wahren Kern. AfD und die FPÖ haben Israel für sich entdeckt. Israel als jüdische Heimstatt, auch als Konsequenz der Shoah, Israel aber vor allem als Vorposten des christlich-jüdischen Abendlandes, das weiten sie dann aus. Israel wird zum Vorposten gegen die Araber, wie es früher geheißen hat, oder heute gegen den Islam. Man verkennt den Nahost-Konflikt, man sieht nicht mehr, dass dieser ein territorialer Konflikt ist, sondern er wird zu einem interreligiösen Konflikt apokalyptischen Ausmaßes. Auf diese Weise wird der Nahost-Konflikt unlösbar. Außer in einer apokalyptischen Endschlacht – darauf läuft es hinaus.

Dazu kommt noch ein weiterer Aspekt: Beide Parteien zeigen sich sozusagen solidarisch mit Israel, sind aber trotzdem antisemitisch. Wie geht das? Indem man die Feindgruppe spaltet. Es gibt die «guten Juden», das wären, umgelegt auf Israel, die «Muskeljuden», von denen Max Nordau im frühen 20. Jahrhundert geschrieben hat. Die kämpferischen Juden, eine Art jüdisch-nationalistische Variante des «weißen Mannes», der die Last der Zivilisation in das Dunkel des Morgenlandes bringt. Das erlaubt ihnen die Solidarität. Dann gibt es noch die «bösen Juden», die als die «Lügenpresse», «die amerikanische Ostküste», die «Hochfinanz«, die «großstädtischen Zersetzungsdenker» und wie sie alle heißen, umschrieben werden. Dieses Muster zeigte schon das Beispiel der deutschen «National-Zeitung» bis in die späten 1970er-Jahre auf. Teils war die Berichterstattung israelverklärt – Mosche Dajan wurde zum Beispiel zum «neuen Rommel» erklärt –, teils wurde gegen Wiedergutmachung agitiert und gegen die «amerikanische Ostküste» gehetzt. Das ging schon einmal zusammen, und warum soll es heute nicht wieder zusammengehen?