Cherchez la Femme (03/2022)
Hannah Arendt sagte, es gibt Zeiten, in denen man sich eingestehen muss, dass man die Welt im Ganzen nicht ändern kann. Man muss herausfinden, wo jetzt die eigene Verantwortung liegt, was man tun muss, um weiter mit sich leben und in den Spiegel schauen zu können. Einst wuchs ich mit christlichen Liedern auf, den braunen Holzkreuzen an der weißen Wand in jeder Klasse der Klosterschule. Die Friedenstaube wurde damals wie heute gepriesen. An diese Taube glaubten wir innig, wie nur Kinder das können. Aber mein kirchlicher Glaube war nie unerschütterlich. Als eine der wenigen Evangelischen mit Spezialbehandlung – damit meine ich separaten Religionsunterricht und dem Verbot der Teilnahme am katholischen Religionsunterricht – war ich als Kind von protestantischen Kirchenleuten und Theaterleuten stets in der Lage zu unterhalten. Und das tat ich gerne. Ich hatte eine Stunde frei, während meine Klassenkameradinnen im Religionsunterricht saßen. Schwester Admirabilis begann mit dem Unterricht erst, als ich die Türe hinter mir zumachte. Manchmal täuschte ich vor, etwas vergessen zu haben, und betrat unerwartet wieder die Klasse. Alle lachten, die Schwester schaute bitter, ihr großes pferdeartiges Gebiss war fest verschlossen, denn behüte mich Gott, wenn mir da etwas zu Ohren gekommen wäre; ich war somit der evangelische Spitzel im Döblinger Konvent der «Pinguine», die ich zum Teil auch sehr liebte. Daraus entwuchs ich rasch mit sechzehn Jahren und emanzipierte mich von Religion und Glauben, so dachte ich, bis ich in eine Phase meines Lebens eintrat, die höllisch wehtat und die mich zu Boden schmetterte: Liebeskummer und Tod meines ersten Freundes. Ja, ich denke, es war diese fragile Zeit des Erwachsenwerdens, in der ich mich verlor. Und in der ich suchte, nach Versprechen, nach Erlösung, nach Irrationalem, nach mir, nach dem, was mich ausmachte und was in mir klang. Das Rationale, das ich ohnehin jeden Tag erlebte, tat so weh. Demnach waren nicht erklärbare Phänomene, Seelisches, das, was mich anzog – Mensch sein, Mensch werden. Ich vermute, mir lieferte damals Spiritualität eine Wertigkeit, die ich bis dato in meinem Leben noch nicht fand.
Goldene Nasen
In den 80er-, 90er-Jahren nahm ich also an zahlreichen Workshops teil, in denen mit charismatischen Persönlichkeiten, verinnerlichten Glaubensmustern, inneren Zirkeln und viel autoritärem Habitus sich einige Leute eine goldene Nase verdienten. Manipulation. New-Age-Esoterik-Seminare gaben sich als Visionssuche, als Ersatzreligion aus, durchsetzt von Heilsversprechen, in denen wir unsere Probleme – die strukturell bedingt und durch die Seminare noch verstärkt wurden – wegmeditieren und uns nicht mehr damit identifizieren sollten. Am besten gleich auf einen anderen Planeten sich schießen lassen! Wer davon am meisten ökonomisch profitierte, war glasklar. Nun ja, es wurde meditiert, was generell nicht zu verachten ist, Achtsamkeit geübt (Achtsamkeit wem gegenüber, sich selbst gegenüber, ganz dem Neoliberalem gewidmet?) und es wurden Energiekanäle aktiviert, das Ego sollte sich transformieren, aber konkrete Schilderungen, wie das ohne Schaden zu bewältigen sei, erhielt man nicht. Diesbezüglich konnte man alles behaupten, weil es nicht beweisbar war, und das war der Clou. Gruppendynamisch wurden in Abwesenheit von Verantwortung Psychospielchen gespielt. Durchwegs männliche Lehrer führten das Wort und alle schwiegen ehrfürchtig. Ein surreales Schauspiel. Ich war zwar naiv, widersprach trotzdem vielem lautstark. Eigentlich suchte ich Hilfe, wie viele andere auch, und fand bloß hohe Seminarkosten, Heuchelei und eine Eigendynamik, die ich ausgrenzend und elitär nennen würde in ihrer Ablehnung und Radikalität jenen gegenüber, die Kritik äußerten und eine eigene Meinung hatten. Das kostete mich einige Watschen und meinen damaligen Freund fast das Leben durch einen Herzinfarkt, der nicht rechtzeitig behandelt wurde, obwohl der Guru, ein immer noch aktiver Arzt und Homöopath in Wien, von seinen Symptomen wusste – aber nicht intervenierte. Seine Diagnose lautete: «Du hast ein Mutterproblem, das musst du lösen.» Als ob es einen Menschen gäbe, der kein Mutterproblem hätte. Ich hatte eine maßlose Wut auf den Guru und auf eine Medizinerin, die allen Ernstes behauptete, eine schwer erkrankte Person sei selbst daran schuld. Mit schlechtem Karma ist es so, meinte sie, da hast du irgendwas angestellt im vorherigen Leben, dass du jetzt so ein Pech hast. Ich war sprachlos gegenüber dieser Grausamkeit. Ursache und Wirkung. Unsoziale Politik – unsoziales Karma. Paradigmen werden falsch verinnerlicht und fleißig reproduziert. Leider entschied sich mein Freund nicht zu einer Anzeige. Er hatte ein langes Leiden aufgrund des Infarkts.
Macht Glaube blind?
Die Sehnsucht nach Überdimensionalem, nach Größe, nach Göttern, Königen, Kaisern und starken Männern, diese Sehnsucht wird doch über die Jahrtausende ad absurdum geführt. Nach den 1990er-Jahren lebte ich in einer agnostischen Phase und glaubte an die Kunst und an die Kraft der Liebe und gebar zwei Kinder. 2010 zog es mir wieder den Boden unter den Füßen weg, als meine Mutter starb. Da entdeckte ich Religion als Halt. Ich wurde Buddhistin. Mit Zuflucht und mit Namen. Mit Lama und mit Lehre. Mit Ziel und Hingabe. Ja, es wirkte. Für eine Zeit. Doch mit zunehmender Kraft und Analyse der Paradigmen waren mir dilettantische Diskussionen mit Personen, die von Philosophie null Ahnung hatten, da zähle ich mich dazu, unerträglich. Man sprach in simplen «Wenn-dann»-Phrasen: Wenn du viel praktizierst, dann wirst du Erleuchtung erlangen, wenn du gibst, wirst du erhalten, wenn du Verdienst ansammelst, dann wirst du eine gute Widergeburt haben. Nachdem ich mich viele Jahren buddhistischer Prinzipien gewidmet habe, von denen ich nach wie vor viele für bedeutend halte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Buddhismus wird im Westen falsch gelehrt. Spiritualität wird zu einem Pop-up-Phänomen, das sich beliebig irgendwo mit irgendwem zelebrieren lässt, egal ob Einweihung, Übertragung, Niederwerfung, Unterwerfung, Tantra, «Reine Sicht» im Gegensatz zu «Unreiner Sicht» (faschistoid?) oder Buddha-Natur, häppchenweise wird Religiöses verzehrt, in individualistischer Form oder im Glaubens-Druck der Gruppe und eines Gurus. Und immer treibt die Hoffnung der Mythen bizarre bis bittere Blüten. Das Exotische transzendieren wir prompt dilettantisch in unseren Western Lifestyle, trendy und cool, nach den unendlichen Happenings und Workshops der 60er-Jahre, die immer noch ihre Spur in uns hinterlassen haben. Anfang dieses Jahres war der Moment von klarem Licht unfassbar intensiv. Es tauchten in meinem Geist die nackten Tatsachen auf und teilten sich mir quasi lächelnd mit, dass der Wurm am Boden nicht meine Mutter gewesen sein kann, dass meine Wiedergeburt seit Millionen von Jahren nicht sein kann, dass Erleuchtung, das heißt totales Beenden von Wiedergeburt durch Praktizieren des Buddhismus, nicht sein kann. Wieso sollte Befreiung von Leid nur auf diesem Weg religiöser Hingabe möglich sein? Da wünsche ich mir konkret politisches Handeln stattdessen. Hatte sich durch Religion je etwas gebessert, ist Frieden immanent? Mitnichten! Was für drastische religiöse Argumente sind immer noch notwendig, um Menschen begreiflich zu machen, dass Töten von Leben uns in der Entwicklung der Menschheit weit nach hinten wirft? Männliche religiöse Führer verlangen den Gläubigen alles ab, selber jedoch betreiben sie Missbrauch und preschen mit schwarzen fetten Autos durch die Gegend. Wer kann denn diesen Personen so viel Macht geben? Glauben wir denn immer nur das, was wir sehen wollen? Macht Glaube blind? Wir alle leben mit unseren kulturellen Filtern im Kopf und ich sehe, dass Religion einen zusätzlichen Filter vor unser Denken setzt, einen beeindruckend schillernden zwar, mit vergoldeten Gottheiten, mit fremdklingenden Mantren und zornigen Rolmos (metallene große Becken, Lieblingsinstrumente von mir), mit symbolischem Gehalt und dem Gefühl von Gruppenzugehörigkeit. Tibet zum Beispiel war lange von der Welt isoliert, monarchistisch und zutiefst rückständig. Auch historisches Wissen hilft bei der Wahl eines Glaubens! Mein Unfall im November und eine Zeit des Nachdenkens brachten Chaos in meine spirituelle Starre und wirbelten alles auf in mir. Staub. Wüste. Das war gut so. Ich brütete überhitzt über den Prinzipien, ich las kritische Literatur, ich versuchte von vielen Seiten zu analysieren, ich überwarf mich mit meiner besten buddhistischen Freundin, und mein Entschluss stand felsenfest: Aus dieser Umklammerung muss ich raus. Meine Sehnsucht, meine Hingabe finden woanders wieder ihren Platz – in der Kunst. Damit gelange ich schwebend in Höhen der Glückseligkeit. Täglich Bach. Wohltemperiertes Klavier. Ach wie schade, dass ich das einige Jahre verlor. Nun greife ich meine Liebe neu auf, sitze ich wieder täglich am Klavier, bin geheilt vom Heil. Glauben kann mir niemand mehr vor-machen. Glauben braucht weder Kapital noch Institution, weder Kirchen, Tempel noch Moscheen. Glaube ist in mir verankert und war es immer schon. Es ist der Glaube an alles, was ich erfassen kann ohne irgendein intellektuelles Konstrukt, es ist der Glaube an Menschlichkeit und dass mein kleines beschissenes Leben mir Freude macht und ich von ein paar Menschen geliebt werde. Mehr wird es nicht. Bleiben wir Sieger*innen über uns selbst und lassen wir den malträtierten Geist frei. Egal aus welchem Gefängnis einer Ideologie.
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