Der WeltempfängerDichter Innenteil

Steven saß in einem Telefonladen in Wien, mit dem hoffnungsvollen Namen «Der Weltempfänger». Wieder DÜ! Verriet der göttliche Satellit, der um eine Verbindung zu seinem Heimatdorf bemüht war, die Distanz, welche Steven auf der Straße von Gibraltar durchschritten hatte?DÜ. Blechernes Rauschen, gefüllt mit einem abwartenden Nichts. Die Stille einer verlassenen Behausung. Es klang ungefähr wie eine von Sandkörnern und Salzwasser abgeschliffene Muschel, die sich der Fischer Steven Goodfeel als Kind ans Ohr hielt. Diese seit Urzeiten geformten Windungen erzeugten einen Widerhall, der aus den Untiefen der Meere kam und sich nach längerem Lauschen verlor. Nach einiger Zeit kehrte dieser verstummte Faden zurück, eine Art toter Tinnitus, setzte sich hinweg über die Gezeiten von Ebbe und Flut und hielt das Flüstern in Gischt gebrochener Wellen gefangen. Wieder DÜ! Verriet der göttliche Satellit, der um eine Verbindung zu seinem Heimatdorf bemüht war, die Distanz, welche Steven auf der Straße von Gibraltar durchschritten hatte? Jene schicksalhafte Meerenge, die das Mittelmeer mit dem Atlantik verband. Nein. Das Nichts ließ zu lange auf sich warten. Steven konnte mit dem Nichts wenig anfangen. Es versetzte ihn in einen Zustand der Unbeholfenheit. Doch er kannte nur zu gut die Intervalle, die zwischen dem Nichts und dem oft genauso wenig greifbaren Etwas lagen. Ein kurzes Pochen. Der Klang des Nichts dauerte zu lange an, und die Fragezeichen in ihm bekamen einen dicken Bauch, unfähig zu gebären. Wieder folgte wie zum Beweis einer unergründlichen Gewissheit ein kurzes Pochen. Die Verbindung war weg, und das lästige Geräusch multiplizierte sich zu einem periodischen Triumphsignal. Der Patient war tot. Alle Reanimationsversuche scheiterten. Die Lebenslinie schrumpfte zu einer Geraden, die einen ziehenden Ton zog, und gleichzeitig wurde im nahen Auto des Verstorbenen – begleitet vom frenetischen Aufheulen der Alarmanlage – eingebrochen. So fühlte sich Steven Goodfeel, der verdrossen über den Tellerrand seiner Telefonzelle blickte und neidisch die vertrauten Schnalzlaute der anderen Afrikaner erspähte, die schnell und laut, solange der Sehnsüchtige Kontakt zur geliebten Außenwelt hielt, mit der trügerisch nahen Heimat die neuesten Geschichten austauschten. Er saß in einem Telefonladen in Wien, mit dem hoffnungsvollen Namen «Der Weltempfänger».

Hier wurde den Stimmen eines scheinbar vergessenen Kontinents Gehör verschafft, auch wenn Steven seit Wochen keine Verbindung zu seinen Liebsten, denen er Geld schicken wollte, aufbauen konnte. Vielleicht war es besser so. Sein Magen knurrte. Er hatte weder Geld noch Arbeit, und das Guthaben auf seiner Telefonwertkarte war fast aufgebraucht. Natürlich blieb ihm die Schmach des Misserfolges durch die Verwandtschaft nicht erspart, da ihre mahnenden und tadelnden Gesichter in seinem Verstand, für niemanden außer ihm sichtbar, vorüberzogen. Der junge Afrikaner stand mit dem Rücken zur Wand. Das erwartungsvolle Rattern und Scheppern jenes kleinen, unsicheren Fischerbootes, welches den Traum eines guten Lebens für ihn und seine Familie schürte, war der Beginn einer Odyssee, die Steven von den Kanaren bis nach Wien spülte.

Irgendwann landete er irgendwo in einer spanischen Kleinstadt. Er hatte das Ungeheuer Meer im Gegensatz zu vielen anderen, die als Haifischfutter und Planktonbrühe endeten, zumindest körperlich unbeschadet überstanden. Die Streitigkeiten ethnischer und ethischer Natur, die im Zuge von Wasser und Nahrungsknappheit auf solchen Wellengängen ausbrechen, blieben in Stevens Fall weitgehend aus. Den einen oder die andere, die zu schwach waren, lebenswichtige Ressourcen verschwendeten, obwohl ihr Ableben sehr wahrscheinlich war, gewährte man mit helfender Hand eine Bestattung am Meeresgrund. Auch die üblichen Vergewaltigungen von Frauen und Kindern hielten sich in Grenzen. So schuftete Steven Goodfeel, von Plantagenbesitzern auf Landstraßen aufgegabelt, in den Treibhäusern Europas. Er lebte in notdürftigen Behausungen, die als ausgediente Gewächshäuser ohne Strom und Fließwasser, andernfalls abgerissen worden wären. Dennoch boten diese Unterkünfte bestehend aus Sperrmüll, altem Plastikgeruch und eingeschlagenen Glasdächern eine Art Zuhause. Für einen Hungerlohn und überteuerte Essensmarken, die vom pickeligen Sohn des Großgrundbesitzers verteilt wurden, ruinierten sich viele afrikanische Flüchtlinge unter dem Einsatz schwer gesundheitsschädigender Pestizide ihre Lungen. Sie starben wie die Fliegen. Aber sie kamen auch wie die Fliegen. Im Vergleich zu diesen infernalischen Verhältnissen war die viel geliebte Androhung mit dem Fegefeuer von den christlichen Missionaren in Stevens Heimatdorf eine paradiesische Verlockung.

Die Dächer dieser Treibhäuser reflektierten das kurzwellige Licht der Sonne und verhielten sich wie riesige Brutöfen, die unaufhörlich glühten, sodass sogar die Vögel und Insekten in der Umgebung jeglichen Kontakt mit ihnen mieden. Doch im Inneren dieser Höllenbrunst herrschten Temperaturen bis über fünfzig Grad Celsius, und die giftigen Dämpfe der Pestizidspritzen taten ihr Übriges, um jeden Atemzug durch die verätzte Nase in einen brennenden und in der Brust stechenden Schmerz zu verwandeln. Ein wohldurchdachter Selbstmord in Raten. Ohne Schutzbekleidung und Atemmasken. Als hätte man diesen modernen Sklaven der Neuzeit einen Plastiksack über den Kopf gezogen, der sich immer enger zusammenschnürt. Die Augen verdampften. Halblind zupfte und zog Steven Gurken, Tomaten, Salate, Paprika und Melonen. Sie schwitzten salzige Ozeane und tranken viel zu wenig. Egal. Das Obst und das Gemüse, welches sie ernteten, schmeckte, in einem Kunstdünger gehegt, nie eine Erde gesehen, nach wässriger Pappe. Egal. Sie duften auch nicht die ungeraden, zu kleinen und daher für den Verkauf unbrauchbaren Teile, verzehren. Egal.

Am Abend legte sich Steven halbtot mit gebrochenem Rücken in seine Baracke. Der Mond spiegelte sich im matten Stoff dieses Plastikmeeres nur sehr schwach und zaghaft wieder. Nur wenige Kilometer entfernt erfreuten sich Einheimische wie Touristen am historischen Bild der Altstadt. Verliebte Pärchen spazierten entlang der Palmenalleen, atmeten den Duft der Johannisbrotsträucher, Erdebeerbäume und des Oleanders ein. Oder Agaven, Feigenkakteen und Wolfsmilchgewächse zierten ihren Weg und vermischten sich mit den hungrigen Gerüchen des Meeres. Irgendwann begann Steven zu laufen. Zuerst sehr langsam und dann immer schneller. Er hatte große Angst, zu fliehen, da der Arbeitsvertrag, den er mit einem Kreuz unterschrieben hatte, ihn in Wahrheit zu einem Leibeigenen machte. Doch er musste das Elend hinter sich lassen. Die Afrikanerinnen, die Abend für Abend für den Plantagenbesitzer und seinen Sohn in völliger Erschöpfung die Beine breit machten, ließ er zurück. Seine hustenden und mit Krätze überzogenen Schwestern und Brüder, die vor sich hinsiechten, wollte er vergessen. Steven lief und blickte kein einziges Mal zurück. Dasselbe Schicksal und derselbe Zufall, die einen Menschen zu einem Schwarzen oder Weißen, Reichen oder Armen machen, führten ihn nach Wien.

Maziar Sadri, am 10. Mai 1976 geboren, ist im Alter von drei Jahren nach Österreich gekommen. Er hat bis Ende Februar 2012 am Flughafen Wien gearbeitet und wirkt seither als freischaffender Schriftsteller. Im Juli 2012 ist sein Erstlingsroman «Der Stadtnomade» erschienen. Der im Augustin veröffentlichte Text ist ein Auszug aus seinem zweiten, noch nicht publizierten Werk «Verkettung». Die kleine Erzählung handelt von vier Hauptfiguren, deren Lebenslinien sich immer wieder treffen und schneiden. Die Protagonist_innen sind eine Ticketschalterangestellte am Flughafen, ein Nazi, ein afrikanischer Flüchtling und ein Obdachloser. Die Erzählung, inspiriert von der Chaostheorie, will die Verwobenheit aller Menschen, ob sie wollen oder nicht, in ihrem Tun ausdrücken. Neben Gedichten, von welchen einige auch im Augustin erschienen sind, arbeitet Maziar Sadri an seinem dritten Buch «Spielarten des Fleisches» und einem Episodenroman.