Der wilde Ritttun & lassen

Psychose, Beschämung und Wege in die Stabilität

Ein Liebeslied auf Social Media oder der ganze US-Wahlkampf – in der Psychose bezieht Susanne Lang alles auf sich. Wie sie sich
erklärt, was da mit ihr passiert, hat sie Dagmar Weidinger erzählt. Illustration: Nina Pieper

Als im Herbst 2018 die Midterm Elections in den USA näher rücken, ist für Susanne Lang* sofort klar, dass es jetzt um sie geht. Bei dieser Wahl soll keine geringere Entscheidung gefällt werden, als jene, ob Susanne, lange Zeit als Sozialpädagogin tätig, jemals wieder im Sozialbereich arbeiten darf. Kurz darauf wird auch noch ein Journalismuspreis ausgeschrieben, der jenem heimischen Schreiberling verliehen werden soll, dem es aufzudecken gelingt, dass Susanne in Wahrheit Nazi ist. Doch die studierte Philosophin, immer schon eine kluge und aufgeweckte Person, weiß sich zu wehren – rauschartig postet sie in den sozialen Medien Dinge zu ihrer Verteidigung und schreibt Florian Klenk vom Falter und Stefanie Sargnagel an, um beide von ihrer Unschuld zu überzeugen. Susanne schläft in der Zeit kaum noch.

Wenn die Chemie nicht stimmt.

«Florian Klenk hat nur ein Fragezeichen zurückgeschickt», erzählt mir Susanne heute in einem Lokal am Mödlinger Hauptplatz, wo sie bei Kaffee und Zigaretten die «aufregende» Geschichte ihrer Psychose erzählt. Susanne wirkt gefasst, manchmal sogar ein wenig amüsiert über das, was ihr da zugestoßen ist. Sie trägt wehende schwarze Hosen und ein weites Shirt, beides um einige Nummern größer als nötig, doch die 31-Jährige möchte sich mit ihren zehn Kilo mehr, die sie durch die Medikamente bekommen hat, momentan lieber nicht zu figurbetont zeigen.
Susanne und ich sind keine Fremden. Als ich 2006 meine erste Lehrveranstaltung an der Uni Wien abhalte, sitzt sie in der letzten Reihe. Susanne fällt mir sofort auf – auch damals ganz in Schwarz gekleidet, die meiste Zeit ruhig; doch immer wenn sie sich zu Wort meldet, ist das, was sie sagt, von Bedeutung. Susanne war meine schlauste Studentin, ihre Abschlussarbeit zu einem psychiatrieerfahrenen Künstler so gut, dass ich sie fragte, ob sie nicht in der Wissenschaft bleiben möchte.
Noch heute hat alles, was Susanne sagt, Hand und Fuß. Ihre Psychose versucht sie wissenschaftlich zu durchdringen; das, was passiert ist, als biologischen Vorgang zu erklären. «Die Psychose ist für mich Zeichen eines chemischen Ungleichgewichts im Gehirn», sagt Susanne. Auf meine Frage, ob ihr das als Erklärung ausreiche, meint sie: «Ja, denn ich habe erlebt, wie die Welt, die ich mir über ein Jahr lang aufgebaut habe, nach Einnahme der Neuroleptika innerhalb von zwei Wochen zusammengebrochen ist. Die übergroße Dopaminausschüttung war vorbei, und ich wieder in der Realität angekommen.»

Nachrichten an Susanne.

Um zu verstehen, wie Susanne dorthin gekommen ist, wo sie jetzt steht, drehen wir das Rad der Zeit um eineinhalb Jahre zurück zum Beginn ihrer Psychose. Es ist Winter 2017, Susanne hat eben einen mühsamen Job als Betreuerin in einer Kreativwerkstatt gekündigt und ist schwanger – von Tarek*. Die Beziehung ist jung, eher von Leidenschaft als Stabilität geprägt, sodass für Tarek sofort klar ist, dass das nicht der Zeitpunkt ist, um Vater zu werden. Susanne ist verzweifelt; aus Angst, Tarek zu verlieren, und auch aus der Gewissheit heraus, es als Alleinerzieherin in Wien ohne Unterstützung der Familie nicht zu schaffen, willigt sie in den Abbruch ein. Was folgt, sind katastrophale Wochen, eine emotionale Achterbahnfahrt für Susanne. Tarek begleitet sie zwar durch die Abtreibung, aber dann ist er verschwunden, er kommt zurück, betrügt sie. Mit letzter Kraft beendet Susanne die schwierige Beziehung.
Als Hilfestellung sieht sie in der Zeit vor allem eine Energetikerin – Marina*. Angeregt durch sie beginnt Susanne selbst schamanische Seminare zu besuchen. Gleichzeitig scheint sich eine neue Liebesbeziehung zu einem Kollegen aus dem Sozialbereich über Facebook anzubahnen. Auf der «Wall» des Verehrten erscheinen nun in regelmäßigen Abständen Lieder, die ausschließlich für Susanne gedacht sind. «Ich habe alles, was auf seiner Vereinsseite gepostet wurde, auf mich bezogen», erzählt Susanne im Rückblick. Ist es ein schönes Lied, ist Susanne euphorisch, auf «böse Lieder» reagiert sie mit aggressiven Antworten. Als «Liebeswahn» bezeichnet Susanne ihre «Eskapaden» im Rückblick. Gleichzeitig verleiten die schamanischen Seminare sie dazu, sich als auserwählt zu sehen. «Jede Schwierigkeit in meinem Leben deutete ich als eine Hürde im Rahmen meines spirituellen Erwachens», erzählt sie.

Trotz allem funktionieren.

An diesem Punkt hake ich nach, kenne ich Susanne doch von früher und weiß, wie gerne und offen sie mit anderen spricht. Hat sich niemand in ihrem Umfeld über ihren Sinneswandel gewundert? «Ein wenig vielleicht», antwortet sie nachdenklich. Tatsächlich hätte sie ihre Wahnideen jedoch immer so schlüssig erzählt, dass niemand wirklich Verdacht schöpfte. «Mein Vater dachte immer, ich werde tatsächlich von all diesen Männern in den sozialen Medien gestalkt», fügt sie hinzu. Und was den Schamanismus betraf – natürlich fanden es viele ihrer Freund_innen befremdlich, dass sie, die nüchterne, rationale Denkerin, auf einmal in der esoterischen Ecke gelandet war; an eine Psychose dachte trotzdem niemand. «Im Alltag funktionierte ich wohl auch weiterhin relativ normal», erzählt Susanne. «Untertags packte ich meine Umzugskartons, am Abend saß ich regelmäßig vor dem Computer und recherchierte zu meinem ‹spirituellen Erwachen›.» Ein Satz ist ihr besonders im Gedächtnis geblieben: «Ein Mystiker fällt ins Meer und kann schwimmen, ein Psychotiker geht unter.» Damit waren auch für sie selbst alle Zweifel am eigenen Zustand ausgeräumt.

Ausweg Suizid.

Wie sehr dieser Satz auch ihrer Realität entsprechen sollte, zeigte sich wenige Monate später. Unser Gespräch pausiert, als wir an diesem Punkt angelangt sind. Ich weiß, was kommt und zögere, nachzufragen. Meine Sorgen sind unbegründet. Susanne kann heute ohne Schwierigkeiten über ihren Suizidversuch in der Psychose sprechen. Als ihr in einem klaren Moment – «justament beim Kiffen» – bewusst geworden sei, was sie alles an andere geschrieben hatte, habe sie die Verzweiflung gepackt. Ein Sprung ins Wasser, ein schnelles Ende schien der einzige Ausweg aus der beschämenden Situation. An einem warmen Maitag 2018 packt sich Susanne um sieben Uhr in der Früh zusammen und fährt zum Handelskai, gewillt zu springen. Dort angekommen wird ihr klar, dass ein Brückensprung ins mäßig kalte Wasser kaum Folgen haben würde. So wählt sie den Zug. «Ich habe mich zum Glück zu blöd angestellt», sagt Susanne, als sie mir von ihrem Sprung vor den erst anfahrenden Wagen erzählt. Ihr Fuß ist eingezwickt, ansonsten passiert nicht viel. Auch in den Wochen danach, zuerst im Unfallkrankenhaus, dann in der psychiatrischen Versorgung wird Susannes Psychose nicht erkannt. Es sollte noch ein weiteres halbes Jahr brauchen, bis Susanne sich mit Hilfe eines Freundes selbst Hilfe holt, indem sie sich freiwillig in die Psychiatrie einweist und dort – ebenso freiwillig – Medikamente nimmt.

Die Gedanken sind fad.

Ich nippe an meinem Kaffee und muss erst einmal tief durchatmen; allein die Erzählung von Susannes Psychose löst bei mir das Gefühl aus, einen wilden Ritt hinter mich gebracht zu haben. Und doch sind wir noch nicht am Ende. «Danach wurde es erst richtig schlimm», erzählt Susanne. «Traurigkeit, Verzweiflung und noch größere Scham» folgen auf dem Fuß. Susanne nennt es die «post-psychotische Depression», die sie in guter psychiatrischer Begleitung durchsteht.
Nach einigen Erholungsmonaten in Oberösterreich bei ihren Eltern ist Susanne nun zurück in Wien, auf Arbeits- und Wohnungssuche. Seit einem Jahr eingestellt auf Medikamente, die sie jedoch bald ausschleichen möchte, zu unangenehm seien die Nebenwirkungen – Gewichtszunahme und fast völliger Verlust der Libido auf Dauer nicht tragbar. Noch dazu fühle sich alles etwas gedämpft an, der Körper wie in Watte gepackt und «die Gedanken fad». Ob sie keine Angst vor der nächsten Psychose habe, frage ich sie. Ihre Antwort ist ambivalent: «Ich weiß, dass mir in schwierigen Situationen so etwas jederzeit wieder passieren kann.» Das Wissen, dass ihr dann Medikamente innerhalb von wenigen Wochen helfen könnten, scheint sie zu beruhigen.

Ein stabiles Haus bauen.

Ich habe noch nicht ganz aufgegeben mit der Idee, dass Psychotherapie langfristig eine gute Sache für Susanne sein könnte. «Ja, vielleicht», sagt sie zögerlich. Kann sein, dass Susanne eher auf die Seite der Biologie setzt, weil sie bereits Therapie-Erfahrung hat und diese die Psychose nicht aufhalten konnte. Bereits vor Jahren begann sie einen Prozess in der Methode des katathymen Bilderlebens, das vorsieht, dass man innere Bilder nach der Therapiestunde auch malt. «Mein Therapeut sagt, meine Bilder waren immer schon psychotisch – wegfliegende Häuser und Menschen», sagt Susanne und fügt hinzu: «Typisch fragmentiert eben.» Susannes Häuser wurden zwar im Laufe der Therapie stabiler, doch mit Beginn der Psychose setzte Susanne auch ihrer Therapie ein Ende.
Ob sie den Prozess fortsetzen möchte, weiß sie heute noch nicht. Nur einmal sei sie seit Abklingen ihrer Psychose bei ihrem Therapeuten gewesen – «Neubau» sei das Motiv der Stunde gewesen; ihr inneres Bild dazu ergab ein stabiles Haus, das fertiggebaut war. 

* Name von der Redaktion geändert