Roman Hufnagl konnte wie so viele Ragazzi der Straße nicht alt werden
Die Aufstellung ist ziemlich konstant. Wie bei einem professionellen Chor. Roman Hufnagl war immer der Zweite von rechts. Vom Publikum aus gesehen. Das Stimmgewitter-Augustin-Faktotum erlag Ende Juli den Folgen seines Obdachlosenlebens. Roman hat es nicht zum Leadsänger gebracht. Doch er war in der schrägen Truppe der singenden AugustinverkäuferInnen das Tüpfelchen überm schrägen „I“.Seine Stimme ist konserviert für die Nachwelt, die Stimme eines Menschen, der sich um die Nachwelt (= die Summe aller Überlebenden) nicht kümmerte, weil er allzu sehr im Jetzt lebte. Sie ist konserviert auf der ersten Stimmgewitter-Augustin-CD, auf der Romans Solopart in den von Hojsa & Emersberger umgetexteten Wiener Glasscherbentanz zu hören ist.
Im Gedächtnis derer, die ihn kannten, sind seine Eigenarten, seine unverwechselbaren Manieren konserviert, die ihn zum Sympathieträger des Wiener „Sandlerchors“ machten. Die tragenden Stimmen des Gesangkörpers kommen aus anderen Kehlen, Romans patscherte Performance aber zählte zu den tragenden Gesten der zwischen Kunst und Kitsch oszillierenden Truppe, zumal kein Beobachter, keine Beobachterin mit Sicherheit zu sagen wusste, wie weit Roman die Tollpatschigkeit inszenierte, wie weit er mit seiner Unschuldigkeit kokettierte.
Roman, der bei jedem Konzert zumindest eine Frau im Publikum findet, der er einen Heiratsantrag macht. Roman, der für eine halbe Semmel ein achtel Kilo Butter braucht, damit sie in den Magen flutscht. Roman, der älteste Rapper Wiens. Roland, der mit seinem Rucksack eine symbiotische Einheit bildet. Roman, der großzügig teilt, was immer ihm zu schnorren gelang. Roman, der den „Anton aus Tirol“ variiert, wenn er bester Laune ist: „Ich bin so schön, ich bin so toll, ich bin der Roman aus dem Wien“. Roman, dem völlig wurscht ist, dass in dieser Interpretation sowohl Rhythmus als auch Reim das Weite suchten. Roman, der ungeschlagene Meister des stillen Trinkens: Jede(r) hätte daneben gegriffen, wenn er gebeten worden wäre, die bereits konsumierte Menge zu schätzen. So viele Roman-Bilder haben sich in den vergangenen fünf Jahren angesammelt, so viele Roman-Anekdoten.
Eine kann der Schreiber dieser Zeilen beisteuern. Nach einem Augustin-Fest im Alten AKH stellt sich dieser beim Abbau der Bühne wie ein Schreiber an. Element für Element trägt er schnaufend zum Transportauto. Roman sieht den bereits völlig Erschöpften, murmelt ein „Typisch Intellektueller!“ in den Bart und erscheint im nächsten Moment mit einer Rodel, die er sich aus dem benachbarten Supermarkt ausgeliehen hat. „Wie kann einer, der so ahnungslos ist, eine gute Zeitung machen?“, fragt er augenzwinkernd den vor endgültigem Zusammenbruch Geretteten.
Die Insel-Republik und der Stress der Stresslosen
Rückblende. August 2001. Roman zeigt uns die Republik Augustin. Sie besteht aus drei Zelten, in einem wohnt er selbst. Die anderen gehören Peter und dem „Falken“, seinen Inselkumpeln. Die Zelte stehen in einem kleinen Wäldchen auf der Donauinsel in der Nähe der Praterbrücke. Der Forst ist dicht genug, um den inoffiziellen Campingplatz, der von Förstern, Polizisten und Magistratsbediensteten toleriert wird, von den Inselwegen aus unsichtbar zu machen. Roman und seine Waldgenossen sind gut drauf, überbieten einander gegenüber den Augustin-„Schreiberlingen“ in der Kunst des spontanen Schmähführens, zeigen uns die imaginäre Grenze, die die drei Einwohner starke Republik in zwei Provinzen teilt: in „Schwechat“ und „Weinviertel“. Wer hier den Schwechater spielt, ist evident. Die Neigung zum Bier drückt sich im Bauch des Falken aus. Roman aber ist eingefleischter Weinviertler. Nie fehlt die Mineralwasserplastikflasche, abgefüllt mit Tetrapackwein, in seinem Rucksack. Diese Gewohnheit wird Roman auch nach seinem Inselleben beibehalten.
Roman ist es, der uns die Verfassung dieser seltsamen Eigenbrötlerrepublik erklärt: „Wir respektieren uns gegenseitig. Wenn einer spinnt, lassen wir ihn spinnen. Peter spinnt zum Beispiel jedes Mal bei Neumond. Wir halten zusammen. Wenn ein Vierter kommt und sein Zelt neben uns aufstellen will, setzen wir drei uns zusammen und entscheiden. Wir sind ein demokratischer Staat. Der Anwärter müsste korrekt und ehrlich sein. Man muss sich auf ihn hundertprozentig verlassen können.“ Freilich ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Zuzügler gleich nebenan sein Zelt aufschlägt, nicht sehr groß. Rund 50 Obdachlose leben zu diesem Zeitpunkt auf der Insel, ihr gemeinsamer Nenner ist der Wunsch, einander nicht in die Quere zu kommen. Die ausgedehnte Fläche der Donauinsel ist zur Verstreuung der Einzelgänger wie geschaffen.
Sesshaft kann Roman nicht einmal im Rahmen seiner Nichtsesshaftigkeit werden. Er und seine drei Kumpel sind immer bereit, den Zeltplatz zu wechseln, denn wenn zu viele InselbenützerInnen wissen, wo die Zelte stehen, steigt das Risiko des Diebstahls. Während des Tags ist Roman ja meistens „drüben“ in der Stadt. Er verkauft Augustin, duscht sich in der „Tschoschi“ (Obdachlosen-Tageszentrum) oder speist in der „Gruft“ (Caritas-Einrichtung), wo er den Ruf des „Waldmenschen“ genießt. Die Angst, dass man am Abend nicht vorfindet, was man am Vormittag verlassen hat, schwingt immer mit: Stress der Stresslosen.
Die tödlichen Winter der Insel
Nie würden sie ihre Inselrepublik verlassen, sagen Roman und seine Nachbarn im Sommer des Jahres 2001. Der darauf folgende Winter bringt eine Kälte, an der Roman fast krepiert. Ohne den „Falken“ wäre er vielleicht schon damals gestorben. Der „Falke“ bemerkt, dass in Romans Zelt ein heftig zitternder Schlafsack liegt. Er ruft die Rettung an. Weil er sich schwer tut, die Adresse anzugeben, holt er die SanitäterInnen ab, die auf einer Brücke warten. Roman kommt ins Spital. Die SozialarbeiterInnen des Augustin beschließen, ihn zu überzeugen, dass eine Rückkehr auf die Insel tödlich sei. Die Augustin-Republik könne noch so frei und idyllisch (von Frühling bis Herbst) sein, der nächste Inselwinter würde seinen Körper brechen. Roman kann in einem leer gewordenen Zimmer des Seniorenwohnheims der ARGE Wien in der Schlachthofgasse unterkommen. Er hat dem „Falken“ gegenüber, den er auf der Insel zurücklässt, ein schlechtes Gewissen, aber er weiß, dass die vom Augustin Recht haben.
Hier im modellhaft geführten ARGE-Heim hätte er alt werden können. Doch InsulanerInnen sind mit Mitte 40 alt. Romans Beine haben sich von den Erfrierungen des tragischen Winters nicht mehr erholen können. Dass es die Leber noch bis zum Sommer 2005 aushielt, ist fast ein Wunder, sagen die, die sich vom stillen Zechertum nicht täuschen ließen und die Weinmengen wahrnahmen, die Roman in seinen Körper schüttete. Ramponierte Leber sind nach der Befreiung von der Not der Straße die landläufigen Vermächtnisse des Straßenlebens. Wie oft ist es Usus unter den sich als AussteigerInnen klassifizierenden Straßenleuten, dass sie in ihrem Open-Air-Romantizismus sich selbst betrügen, indem sie darüber hinwegsehen, wie rasch Alkohol und Unbehaustsein ihre Körper verändern. Sie leugnen ihre Verfaulung. Roman ist da keine Ausnahme.
Noch lange vor seinem 50. Geburtstag stirbt Roman Hufnagl. Die KollegInnen vom Stimmgewitter werfen ihm Tetrapackwein ins Armengrab am Zentralfriedhof und singen „“Wahre Freundschaft darf nicht wanken““. Der Chor wird einen neuen Zweiten von rechts finden, aber Romans derb-sanfter Charme wird nie ersetzt werden können.