«Derart verstümmelt»vorstadt

Lokalmatadorin Nr. 360:

Türkan Akkaya-Kalayci leitet die Ambulanz für Transkulturelle Psychiatrie am Wiener AKH.

Von Uwe Mauch (Text) und Mario Lang (Foto)

Man hat ihr berichtet, dass der junge Mann aus Syrien aggressiv gegenüber anderen ist. Jetzt sitzt er ihr in ihrer Ambulanz gegenüber. Es fällt ihr sofort auf, dass ihm zwei Finger an der rechten Hand fehlen. Daher erkundigt sie sich, ob ihm «das» auf der Flucht passiert ist. Sie spricht seine Sprache, weil sie selbst nahe der Grenze der Türkei zu Syrien geboren wurde. Der noch minderjährige unbegleitete Flüchtling zuckt mit seinen Schultern, dann sagt er, als wäre es das Normalste der Welt: «Nein, das waren die Typen vom IS. Die haben mich beim Rauchen erwischt.»

In Momenten wie diesen ist auch eine erfahrene Psychiaterin und Psychotherapeutin wie Türkan Akkaya-Kalayci in erster Linie Mensch und nicht abgeklärte Helferin. Da schließt ihre Professionalität persönliche Betroffenheit nicht aus.

Es sind Fragen wie diese, die ihr dann durch den Kopf gehen: «Wie viel Leid hat dieser 16-jährige Mann schon ertragen müssen, dass er derart gleichgültig über die Verstümmelung seines eigenen Körpers erzählt?» – «Was erleben Kinder im Krieg Tag für Tag?» – «Wie viel Leid kann ein Mensch über sich ergehen lassen?»

Ein kleiner fensterloser Raum in einem Nebengebäude des Allgemeinen Krankenhauses. Selbst die bunten Kinderzeichnungen erscheinen im künstlichen Licht farblos. Von hier aus leitet Frau Doktor Türkan Akkaya-Kalayci die Ambulanz für Transkulturelle Psychiatrie für Kinder und Jugendliche. Diese ist weiterhin einzigartig in Europa. Hier werden seit bald zwanzig Jahren migrationsbedingte Störungen und Traumafolgestörungen im Kindes- und Jugendalter ganzheitlich behandelt.

Doch bevor jetzt patriotische Euphorie aufkommt, sei auch gesagt: Die Ambulanz, die an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien angesiedelt ist, wird seit ihrer Gründung im Jahr 1996 von der Gründerin im Alleingang geführt. Über zu wenig Arbeit kann sie sich daher nicht beklagen: «Ich habe im Schnitt mit 30 jungen Patient_innen pro Woche zu tun.»

Auch mit schwer zu verarbeitenden Familiengeschichten: «Nie werde ich die todtraurige Mutter einer Patientin vergessen, die mir erzählt hat, dass man sie und ihre Tochter vergewaltigt hat, und dass man ihr dann den toten Sohn, der sie rächen wollte, vor die Haustür gelegt hat. Derart verstümmelt, dass sie ihr eigenes Kind nicht mehr erkannt hat.»

Die Anmeldungen für einen Termin werden in diesen Tagen nicht weniger. Zuletzt haben sich auch die Anfragen aus dem Erstaufnahmelager Traiskirchen gehäuft. Doch sie registriert nicht nur Beschwerden, die eindeutig auf Kriegs- und Fluchterlebnisse zurückzuführen sind, auch die fremde neue Umgebung und die Hürden auf dem Weg zur Integration können das seelische Gleichgewicht beeinträchtigen.

Die Ambulanzleiterin erlebt jene Menschen, die auf dem Land sozialisiert wurden, in Wien anders als jene, die in den großen Städten ihres Heimatlandes aufgewachsen sind: «Sie sehen sich hier als Fremde, leben zurückgezogener, sind weniger selbstbewusst, rigider, religiöser, mehr auf ihre Traditionen bedacht.»

Die Ärztin kann das heute bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Sie selbst ist im Jahr 1993 gezielt nach Wien gekommen, nach Abschluss ihres Medizinstudiums in Istanbul, um hier die Facharzt- und Psychotherapie-Ausbildung zu absolvieren. «Wie so viele meiner Landsleute wollte ich nicht für immer hier bleiben. Und da gerät man schnell einmal in ein Spannungsfeld. Man hat Angst, in seiner Heimat den Anschluss zu verlieren, will eventuell zurückkehren, aber nach der Rückkehr nicht auch noch zu Hause fremd sein.»

Doch dann hat sie die Ausbildung und die Arbeit an ihrer Ambulanz derart beschäftigt und begeistert, dass bis heute nie an eine Rückkehr in ihre Heimat zu denken war. Auch deshalb nicht, weil der Südosten der Türkei an der Grenze zu Syrien weiterhin zu den unsichersten Regionen der Welt gezählt werden muss. Wien erlebt sie dagegen für sich, ihren Mann und ihre beiden schulpflichtigen Kinder als absolut lebenswerte Stadt: «Ich habe mich hier von Anfang an wohl gefühlt.»

Ab und zu beschleichen sie jedoch Zweifel, ob in dieser Stadt tatsächlich alles zum Wohlfühlen ist. Die Wahlplakate der Angstmacher und Hasserzeuger haben ihre Wirkung bisher nie verfehlt. Die Therapeutin weiß von etlichen Kindern und schwangeren Frauen mit Migrationshintergrund, die mit akuten Traumata zu ihr in die Ambulanz kommen, auffallend viele während der Wahl-Kämpfe: «Sie beklagen, dass sie auf offener Straße beschimpft, bespuckt, mit Hunden bedroht und auch geschlagen wurden.» Persönliche Attacken auf die Menschlickeit – mitten in Wien!

Anderes baut sie auf: Gemeinsam mit der Medizinanthropologin Christine Binder-Fritz hat sie im Vorjahr an der MedUni Wien einen weltweit neuen Universitätslehrgang eingerichtet. In fünf Semestern soll den Teilnehmer_innen praxisnah das Thema Transkulturelle Medizin und Diversity Care näher gebracht werden. Der erste Turnus startete im Oktober 2015, weitere sollen folgen. Nähere Informationen unter: 0 664 800 164 0200.

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