Des Gesetzes blaues Augetun & lassen

Augustin beobachtet Richter (1): Die verlorene Idee der Sühne

In einem Rechtsstaat ist die Gerechtigkeit auf einem Auge blind. Das zeichnet ihn gegenüber den Diktaturen aus, wo sie zwei tote Augen hat und ihr auch noch der Blindenhund verboten ist. Wir leben in einem solchen Rechtsstaat und müssen froh darüber sein. Aber bei bestimmten Anlässen wird uns die erwähnte Sehbehinderung bewusst. Beispielsweise, wenn wir als ungeladene Zuhörer einem Strafprozess beiwohnen.Schauplatz Landesgericht. Gegenstand des Verfahrens ist ein gerötetes Auge, Ursache der tagelang sichtbaren Rötung ein Faustschlag. Kläger und Angeklagter hatten spät nachts in einem Lokal unterhalb des Gürtel-Stadtbahnbogens in alkoholisiertem Zustand eine verbale Auseinandersetzung. Der Kläger hatte sich nicht an die dort übliche Einsatzregel beim Billardspiel gehalten und wurde vom Angeklagten zurechtgewiesen. Daraufhin forderte er den Angeklagten mit der in Wien unmissverständlichen Bemerkung „Na dann gehn wir halt hinaus“ zum Raufhandel vor dem Lokal auf.

Der Angeklagte geht auf diese Provokation zunächst nicht ein. Wie viel Alkohol danach fließt, wird in der Verhandlung nicht eruiert. Als der Angeklagte erhebliche Zeit später die Toilette aufsucht, folgt ihm der Kläger. „Bist du nicht der, der mit mir vors Lokal gehen wollte?“ „Wir können es auch gleich ausmachen“ Auf diesen WC-Dialog folgen ein Stoß mit dem Kopf und ein Faustschlag. Beides vom Angeklagten in Richtung Kläger, dessen Sieg in dieser unwürdigen Begegnung jetzt feststeht. Er kommt mit einem geröteten Auge davon, während der Angeklagte eine unbedingte Freiheitsstrafe von fünf Monaten ausfasst.

Die beiden Zeugen der Verteidigung, die bestätigen sollen, dass der Kläger schon vor der Auseinandersetzung mehrere Lokalbesucher aufgefordert hatte „mit ihm hinauszugehen“, und sich vielen Gästen gegenüber provokant verhalten hat, werden nicht vorgelassen. Das wirkt in der Situation empörend, ist aber im Sinne der Gerichtsordnung durchaus korrekt. Am Strafausmaß hätte die Klärung dieses Details nichts mehr geändert und die Stimmung der Zuhörer rechtfertigt keine Verfahrensverzögerung. Das Ansehen des Angeklagten ist in einem Strafprozess kein besonders schützenswertes Objekt.

Fünf Monate Knast für ein gerötetes Auge. Ein hartes Urteil? Keineswegs. Der Richter hat fast alle Milde walten lassen, die ihm im gesetzlichen Rahmen überhaupt möglich war. Denn das Sündenregister des Angeklagten erfordert die ganze Härte des Gesetzes. Das Ergebnis der richterlichen Milde ist trotzdem eine soziale Katastrophe, zieht man die näheren Umstände in Betracht.

100 Faustschläge verhindert, einen ausgeteilt …

Der Verurteilte hat sich ein halbes Jahrzehnt lang wohl verhalten. Seit Jahren arbeitet er als Küster der evangelischen Kirche und als Betreuer einer Tagesheimstätte für Freigänger und andere soziale Randgruppen. In dieser Zeit hat er sich zum Co-Leiter dieser Institution emporgearbeitet, hat eigenhändig die Räumlichkeiten ausgemalt, die Gartengestaltung organisiert und daran mitgearbeitet. Es ist zum sehr großen Teil sein Verdienst, dass in diesem Haus zu den Öffnungszeiten über hundert Bedürftige gratis bewirtet werden – an gedeckten Tischen, an die das Essen für jeden Einzelnen serviert und das Geschirr wieder abserviert wird. Er hat eine Unzahl von Veranstaltungen organisiert und eine neue Kommunikationsplattform geschaffen, die von Begegnungsbereiten aller sozialen Schichten angenommen wird.

Da die Klientel des Hauses oft sehr viel mehr an einfühlender Betreuung braucht, als die Betriebszeiten zulassen, ergibt sich ein Arbeitspensum, das über das einer gewöhnlichen Anstellung meist weit hinausgeht. Für beide Tätigkeiten zusammen – Küster und Betreuer – erhält er ein Nettoeinkommen von ungefähr 500 Euro pro Monat. Andere würden lieber von der Sozialhilfe leben. Warum er sich den Job antue? Es sei die Anerkennung, die er hier erfahre, die soziale Wärme, zu der er beitragen könne, vor allem aber eine stellvertretende Wiedergutmachung dessen, was er dem Gesetz nach ohnehin lückenlos verbüßt hat. Dieser Impuls zum stellvertretenden Wiedergutmachen ist auch für die vielen anderen Mitarbeiter der Motor zum engagierten Dienst.

Trotzdem: Unrecht bleibt Unrecht. Der Angeklagte hat durch sein virtuoses Vermittlungsgeschick in den letzten Jahren sicher hundert Faustschläge verhindert. Das heißt aber nicht, dass er jetzt selber einen gut gehabt hat. Auch das Verhalten des Klägers rechtfertigt seine Tat nicht.

Ob dieser die Tat wirklich provoziert hat, wird nicht eruiert. Im Gerichtssaal aber verhält er sich vor einem Dutzend Zeugen provokativ. Es ist ihm anzusehen, dass er einen Sieg auskostet. Er hat es geschafft, die Staatsgewalt für ihn zuschlagen zu lassen, und zwar so, dass sein Kontrahent nicht mit einem blauen Auge davon kommt. Als Einziger im Saal sitzt er jetzt da wie in einem Strandkorb, mit übereinander geschlagenen Beinen. „Herr Magister“, wird er befragt, „Sie sind Jurist?“ „Ja“. „Mit dem Angeklagten sind sie weder verschwägert noch verwandt?“ „Na Gott sei Dank nicht!“. Diese Stänkerei ist nicht nur für den Richter hörbar, sondern auch für das Dutzend Anwesende im Saal. Als der Angeklagte dem Kläger (aus seinen 500 Euro Monatseinkommen) ein freiwilliges Schmerzensgeld von 300 Euro als tätige Reue anbietet, bekommt der Richter (sinngemäß) „Das ist mir Wurscht, aber ich nehm’s halt.“ zu hören.

Der Mensch wird vor dem Richter zur Papierperson

Es soll dem Kläger nicht unterstellt werden, dass er den Tatort schon in der Absicht betreten hat, sich ein Opfer zu suchen, das sich provozieren lässt und das er dann im Schutze des gesatzten Rechts seinerseits demütigen lassen kann. Aber diese Möglichkeit an sich liegt sehr nahe und zeigt das Verhängnis einer Strafjustiz, die in erster Linie mit Freiheitsstrafen agiert. Je härter die Strafbedrohungen, desto größer die Versuchung, die bewaffnete Staatsgewalt zu missbrauchen. In Zeiten diktatorischer Staatsformen machen die dann stets auftretenden Massendenunziationen diese Versuchung sichtbar. Wer nach härteren Freiheitsstrafen ruft, ruft nach der Verführung zum Missbrauch der Rechtsgewalt, er wünscht sich – bewusst oder nicht – eine starke Institution, die für ihn zuschlägt.

Dass die Freiheitsstrafe den Täter aus seinem mit so viel positivem Einsatz betriebenen Resozialisierungsbemühen wieder herausreißt, dass ein paar hundert Bedürftige, für die sein Engagement unentbehrlich geworden ist, mit bestraft werden, dass die menschlichen Beziehungen, die er sich aufgebaut hat, extrem belastet werden … Das und vieles mehr geht fast gar nicht in die Rechtsfindung ein.

Der Mensch vor dem Richter wird durch eine Papierperson ersetzt, es wird ihm eine aktenkundige Identität verliehen, die ihm zwar nicht völlig unähnlich ist, die ihm aber auch nicht gleicht wie ein Zwilling. Nicht einmal wie ein Bruder. Gerechtigkeit setzt Allwissenheit voraus. Das bedeutet, dass sie nicht möglich ist. In einem Rechtsstaat ist die Gerechtigkeit auf einem Auge blind. Denn die nach bestem Wissen und moralischen Regeln eruierbare Wahrheit bleibt eben immer bestenfalls die halbe. Was als Wahrheitsfindung gilt, beschränkt sich darauf, sichtbare, messbare, zählbare Indizien zusammenzutragen.

Siegen die, die Recht von Rache ableiten?

Vieles – und oft das Wesentliche – ist eben nicht zählbar, messbar und wägbar. Deshalb befindet sich die Waage der Gerechtigkeit nicht in der Hand eines Richters, ja nicht einmal in der Hand eines Halbgotts. Erst eine Göttin ist in der Lage, Gerechtigkeit zu erwägen. Die Justiz hat sich dieses Symbol der eigenen Fehlbarkeit selber gewählt. Sie sollte aufhören, es zu verspotten. Zurückschlagen – auch mit kühlem Kopf und durch unbeteiligte, in diesem Sinne objektiv handelnde Institutionen – ist einer reifen Gesellschaft nicht würdig. Eine reife Staatsform sollte man daran erkennen, dass sie Pannen zum Nutzen der Gemeinschaft wendet. Wir sind erst auf dem Weg dorthin. Wir sollten ihn konsequent weiter verfolgen.

Strafrechtsreformen sollten zunehmend ein Sühnerecht schaffen. Beaufsichtigte Arbeit, wo sie wegen fehlender Mittel sonst unterbleiben muss – die bauliche Umgestaltung von Behindertenwohnungen, die Renovierung von Senioreneinrichtungen, Pflegeheimen, Kindergärten, Schulen, das Betreiben umweltbewusster Garten- und Landwirtschaft, Pflege öffentlichen Gutes, von Kunstschätzen und Kulturbetrieben … Man wird gar nicht fertig mit dem Aufzählen dessen, was dem Leben der Gemeinschaft dienen würde und derzeit fehlt. Und all das sollte in einem Sühne-statt-Strafe-Gedanken nicht in erster Linie aus wirtschaftlichen Überlegungen erfolgen. An die Stelle des öffentlichen Sich-Begeilens an der Schande ist die Begeilung an der virtuellen Gewalt im Fernsehen getreten. Das ist ein Fortschritt, aber er ist nicht groß genug.

Die Pranger und die öffentlichen Hinrichtungen sind abgeschafft. Ihr Gegenstück – das Sichtbarmachen von Wiedergutmachung und das Annehmen von Sühnebereitschaft – steckt noch in den Kinderschuhen. Die Tagesheimstätte im 6. Bezirk, von der hier bisher ungenannt die Rede war, ist eines der wenigen positiven Beispiele. Sie wird vom Justizministerium subventioniert. Dafür verdient es ein großes Lob. Aber es ist erst ein Steinchen auf dem Weg zu einer Gesellschaft, die zusammenwachsen will, statt Selbstzerfleischung zu betreiben. Der Justiz kommt auf diesem Weg eine hohe Verantwortung und eine tragende Rolle zu. Ihre Reformbereitschaft kann nie hoch genug sein. Bleibt zu hoffen, dass die Bremser der Humanität nicht die Oberhand behalten, die „Recht“ am liebsten mit Umlaut A schreiben würden, weil sie es von „Rache“ herleiten.

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