Anja Hilling inszeniert am Schauspielhaus Europas Grenzen an einem «sonnigen Tag»
In ihrem jüngsten Stück «Sinfonie des sonnigen Tages» lässt Anja Hilling am Wiener Schauspielhaus zwei Welten aufeinanderprallen. Eine Konfrontation, bei der es am Ende auf beiden Seiten keine Gewinner_innen gibt. Bericht einer Uraufführung.
Illustration: Elvira Stein
Jammer und Schauder, die beiden Eckpfeiler unserer Theaterkultur, derer sich schon griechische Tragödien mit Erfolg bedienten, sind längst nicht mehr en vogue. Katharsis wird dem Gegenwartstheater schon lange nicht mehr abverlangt, schon eher wird auf der Bühne Distanz geschaffen und der zynische Kommentar gepflegt, zuletzt etwa bei Wolfram Lotz‘ grandioser Kriegssatire «Die lächerliche Finsternis» am Akademietheater. Dabei könnte ein reinigendes Theatergewitter, das sich aus dem Mikrokosmos individueller Seelenabgründe herauswagt und weltpolitische Themen vor Augen führt, nicht schaden. Die deutsche Autorin Anja Hilling hat mit ihrer jüngsten Produktion gemeinsam mit der Band Mouse on Mars ordentlich an der Wohlfühlzone der Zuschauer_innen gerührt. Sie schafft es, sowohl das Private im Politischen als auch das Politische im Privaten zu finden und in teils düstere, teils groteske Textschachteln zu packen. Diesmal zeigt sie das perfide System europäischer Migrationsverhinderungspolitik auf und bringt damit einen ziemlich unterrepräsentierten Bühnenstoff nach Wien.
Kampf um zweierlei Existenz
Ein riesiges Meer trennt die Protagonist_innen Ricarda und Ralf (gespielt von Franziska Hackl und Thiemo Strutzenberger) – ein gelangweiltes Urlauberpärchen, das sich nicht mehr viel zu sagen hat, sich aber trotzdem einiges an den Kopf wirft – von Lou (Charlotte Müller), einer jungen Frau auf der Flucht. Die Bühne entlang verlaufen Stahlwände, die wie ein zustimmendes Kommentar auf ein Slavoj-Žižek-Zitat wirken («Das ist die Wahrheit der Globalisierung: neue Mauern») und die beiden parallel verlaufenden Erzählstränge umrahmen. Dazwischen erleben wir den Kampf um die Existenz einer Ehe und den Kampf um die nackte Existenz.
Vor allem Charlotte Müller als Lou vermag Hillings komplexe Textberge eindringlich näherzubringen, ohne sie in Pathos zu ertränken. Lou, mit weiß bemaltem Gesicht, in Rot und Schwarz gekleidet, ist wie eine antike Heldin, die gegen ihr Schicksal ankämpft, kraftvoll gegen die Stahlwände drischt und in komplexer, eloquenter Sprache Zorn, Angst und die Gewalt um sie herum zum Ausdruck bringt: «Keine Lügen mehr / Keine Schüsse. Kein Stolpern durchs Knochenfeld. Kein Streifzug der Luft mehr durchs Skelett. Es wird ruhig werden / Irgendwann / Wann immer du willst. Sei was. Die befreiende Kraft. Nach dem Wahnsinn die Ruhe / Nach dem Hunger das Essen. Das fette Leben ist hier / Wo sonst.» Ralf und Rebecca, laut Selbstdefinition «heterosexuell, verheiratet, in der Mitte des Lebens, der Gesellschaft», sprechen nur in knappen Sätzen miteinander, tauschen Phrasen und zynische Wortgefechte miteinander und gegeneinander aus (Sie: «Hast du mit ihr geschlafen?» Er: «Wenn du es so nennen willst.»). Durch die harten Schnitte zwischen den beiden Lebenswelten werden der Zynismus und die Lethargie im Urlaubsparadies noch deutlicher. Doch lässt Hilling nicht zu, sie gegeneinander auszuspielen und sagt selbst über ihr düsteres, aber umso eindringliches Stück: «Beide Seiten ändern ihre Bestimmung in der Welt. Sie greifen ein in die unantastbaren Umstände. Mehr Optimismus hab ich im Moment nicht zu bieten.»
Ode an die gescheiterte Freude
Zusammen mit Mouse on Mars hat Hilling in der Regie von Felicitas Brucker eine beeindruckende Inszenierung geschaffen. Bedrohliche Klänge ziehen sich durch das ganze Stück und versetzen das Publikum in einen permanenten Zustand der Aufmerksamkeit und Beklemmung. Während sonst Musik im Theater nur atmosphärische Brücken baut, ist sie hier allgegenwärtig. Ein tosender Lärm, der erst gegen Ende verstummen will. Das Duo Mouse on Mars, die Band gilt seit ihrer Gründung 1993 als wahrer Exportschlager deutscher Elektro-Musik (im letzten Jahr gab es sogar die erste Asientour), versteht es, Live-Sounds mit vorproduzierten Klängen zu mischen und zusammen mit den Stimmen der Schauspieler_innen eine, auch musikalisch, feine Theaterkomposition zu schaffen. Nur die Europahymne lässt sich in ihrem kongenialen Klangteppich nicht heraushören.
Hilling nimmt Beethovens Neunte Sinfonie auch nur als Motiv und Struktur des Stückes. Ihr Text lässt sich als Paraphrase gescheiterter Europapolitik lesen. Im vierten und letzten Akt kommt es zum letalen Showdown.
Aus Beethovens viertem Satz seiner Sinfonie ging übrigens die Europahymne hervor. Für den slowenischen Philosophen Žižek steht die Komposition stellvertretend für Europa (wobei die Sinfonie schon viele Auftritte hatte, unter anderem auch bei Hitlers Geburtstagsfeier). Für Žižek nimmt der vierte Satz nochmal eine besondere Wendung, ab da «geht in der Musik alles schief», und Žižek fragt sich, ob diese Stelle nicht symptomatisch für die heutige Europapolitik steht.
Eine Interpretation, die auch Hillings Stück zugrundeliegen könnte. Am Ende geht alles schief, gibt es eine Leiche am Strand, eine kaputte Ehe und ein kaputtes Motorrad, und alle drei gehen im Theaternebel unter.
Christine Ehardt ist Theater-, Film- und Medienwissenschaftlerin und arbeitet als freie Theaterkritikerin und Uni-Lektorin in Wien.
Elvira Stein gibt auf http://elvirastein.com Einblicke in ihr Sketchbook.
Über Anja Hilling:
Tischordnung für die Trauerfeier: Die etablierte Dramatik von Anja Hilling
Anja Hilling, Jahrgang 1975, zählt laut dem Goetheinstitut zu den fünfzig wichtigsten deutschen Dramatiker_innen der Gegenwart. Trotzdem wird ihr umfangreiches Werk immer noch unter dem Genrebegriff «junge Dramatik» subsumiert. Dabei ist die Wahlberlinerin der Nachwuchsriege längst entwachsen, ihre Texte, vorrangig Werke fürs Theater, sind vielfach ausgezeichnet und werden oft gespielt. Im Wiener Schauspielhaus wurde zuletzt das Stück «Der Garten» gegeben. Darin verwebt sie die «Blumen des Bösen» von Charles Baudelaire mit einer präzisen Studie über die Bohémien-Bourgeois unserer Tage («Sie sind irgendwo in ihren Dreißigern, kommen klar hier. Wenn sie frieren, nehmen sie den Laptop direkt auf den Schoß, wenn sie nachts aufwachen, bauen sie die Festplatte aus, und wenn sie verrückt werden, hängen sie die Tischordnung für ihre Trauerfeier an die Pinnwand.»). Menschliche Beziehungen, Kulturkritik und die Natur als Hoffnungsraum und unberechenbares Zerrbild der Gesellschaft sind ihre zentralen Themen. Hillings Stil changiert zwischen tragisch-poetisch und entlarvend-humorvoll, mit einer verrätselten Sprache und meist mit tragischem Ausgang. Ihre Stücktitel lesen sich wie die Erfolgsalben der Hamburger Schule, Mein junges idiotisches Herz, Schwarzes Tier Traurigkeit, Radio Rhapsodie.
Info:
Sinfonie des sonnigen Tages
Spieltermine: 21., 22. Oktober, 8., 9., 20. November
www.schauspielhaus.at