Die Abenteuer des Herrn Hüseyin (123)
Hüseyin ist Zeuge vieler Gespräche in den öffentlichen Verkehrsmitteln in Wien. Meistens weiß man nicht, was man mit den Nachbarn und Nachbarinnen reden soll.
Grafik: Carla Müller
Oder irgendwelche Floskeln. Am ehesten kommt man sich bei den Wetternachrichten zusammen. Da kann nichts schiefgehen. Es ist leicht, darüber zu reden, ohne dass man von sich privat erzählen muss. Sogar bei der Nachbarschaft ist es so. «Na wos sagn S´ zum Wötta?» Die Antwort: «Es is ja Wohnsinnn, wos des Wötta so ois spütt.» Herr Hüseyin ist auch einer von ihnen geworden. Er begrüßt inzwischen auch die Nachbarn: «Grieß ehna!» Entweder grüßen sie zurück oder nicken sie nur. Wobei sehr viele im Haus nicht unbedingt echte Wiener_innen sind. Im Gegensatz zu den Nachbar_innen ist Herr Hüseyin ein echter Wiener. Seitdem er in der Nähe der Innenstadt wohnt, war er noch nie zu einem Tee oder Kaffee in einer Nachbarwohnung eingeladen worden. Selbst lädt er auch keine Nachbarn zu sich. Am Gang begrüßt man sich höflich, und das war’s. In der alten Heimat des Herrn Hüseyin war die Nachbarschaft ganz anders. Da war man andauernd bei den Nachbarn zu Hause. Das Essen hat man geteilt. Meist trank man Tee. Wenn man sich ein paar Tage nicht gesehen hatte, machte man sich Sorgen, ob dem Nachbarn etwas passiert sei. Da redete man auch nicht sehr viel über das Wetter. Im Winter war es sehr kalt. Frühling war auch warm. Aber der Sommer war sehr heiß. Die Frauen redeten vor den Häusern miteinander strickend.
Seit ein paar Tagen steht vor der Wohnungstür des alten Nachbarn, der genau so allein lebt wie der Hüseyin ein Müllsackerl. Er macht sich Sorgen um den Nachbarn, ob ihm etwas passiert ist. Zwar ist das Müllsackerl gut zugebunden. Es stinkt nicht. Nach einer Woche ist das Sackerl noch immer vor der Tür. Hüseyin denkt an Polizei und Feuerwehr. Er geht vor die Tür des Nachbarn und versucht zu riechen. Aber heutzutage sind die Türen sehr dicht und sicher. Schutz vor der Außenwelt ist in diesen Zeiten anscheinend sehr wichtig. Also überall außer zwischen den eigenen vier Wänden lauert die Gefahr. Hüseyin entscheidet sich, sein Ohr an der Tür des Nachbarn als Aufnahmeorgan für sein Gewissen ins Spiel zu bringen. In dem Moment kommt der alte Nachbar aus der Wohnung heraus. Auf der einen Seite ist der Hüseyin froh, seinen Nachbarn lebendig zu sehen, aber auf der anderen Seite fragt der Nachbar seine Blicke auf den Hüseyin richtend: «Wos wüll der?»
Hüseyin erklärt dem Nachbarn die Situation. Dem Gesicht des Nachbarn kann Hüseyin letztendlich ein Lächeln entlocken.
Schöne Frühlingstage wünscht der Hüseyin den Nachbarinnen und Nachbarn in Wien.