Die aktiven Obdachlosen von Marseillevorstadt

Die Initiative Le Carillon (Das Glockenspiel) versucht mit einem Netzwerk solidarischer Geschäfte dem sozialen Zusammenhalt nachzuhelfen. Natalie Deewan (Text und Fotos) hat die Inklusionsbotschafter_innen von Marseille besucht.

Sébil wird bald 30 und hat 16 Jahre seines Lebens auf der Straße oder im Gefängnis verbracht. Doch heute ist er als Botschafter unterwegs in den Straßen von Marseille, um anderen Leuten, die wie er auf der Straße leben, vom Carillon zu erzählen. Dieses Netzwerk von mittlerweile rund 140 solidarischen Geschäften in Marseille – Cafés, Restaurants, Bäckereien, aber auch ein Friseur oder ein Second-Hand-Laden – signalisiert seit 2017 per Aufkleber an der Eingangstür: Komm rein, hier bist du willkommen. Kleine Zusatzaufkleber verweisen auf verschiedene alltägliche Dienstleistungen, die angeboten werden: Telefon aufladen, die Mikrowelle oder die Toiletten benützen, Kleingeld in größere Scheine wechseln, Gepäck zwischenlagern etc. Darüber hinaus bietet rund ein Fünftel der beteiligten Geschäfte aber auch die Möglichkeit, dass Kunden, die es sich leisten können, einen reduzierten Preis (etwa fünf statt 14 Euro) für z. B. eine Mahlzeit bezahlen, die in die «Warteschleife» kommt und später bei Bedarf ausgegeben wird an eine bedürftige Person.
Eine Art erweitertes Caffè-Sospeso-Modell also: Dieser neapoletanische Brauch, nicht nur seinen eigenen Kaffee, sondern gleich noch einen zweiten mitzubezahlen, für Unbekannte, die es nötig haben, hat sich in den vergangenen Jahren in vielen Ländern verbreitet. In Deutschland sind aktuell 325 Geschäfte Teil der Initiative «Spendiert! – Suspended Coffee Germany», wobei auch nichtkoffeinhaltige Produkte wie T-Shirts, Mahlzeiten, Haarschnitte etc. angeboten werden. In Österreich konnten Bo(h)nuskaffee-Aktivist_innen ab 2013 einige Lokale für diese Idee gewinnen. (Vgl. «Teilen und genießen» von Martin Schenk in AUGUSTIN Nr. 305.)

«Ich bin auch auf der Straße.»

In Marseille schwärmt das Team aus Botschafter_innen, Freiwilligen, Praktikant_innen und zwei angestellten Mitarbeiterinnen regelmäßig aus, um das System Carillon bei potenziellen Kooperationspartnern wie Zielpublikum bekannt zu machen, Feedback beider Seiten einzuholen und die aktuellen Adresshefte sowie nicht eingelöste Gutscheine weiterzuverteilen. In dem einstündigen Rundgang auf der Avenue du Prado in der Nähe der großen Badestrände treffen wir auf acht obdachlose Personen. Sébil ist mit so viel Elan bei der Sache, dass er gleich auch mit ganz anderen Fragen gelöchert wird: Ein junger Mann, der mit seiner Freundin inmitten von Plastiktaschen und Rucksäcken in einem Durchgang am Boden sitzt, will wissen, wie er denn den Hund, der ihm abgenommen wurde, wieder zurückbekommen könne? Sébil kennt sich aus und notiert die Telefonnummer. «Aber weißt du, ich kann dir nichts versprechen, ich bin genau wie du auf der Straße. Wenn ich hier fertig bin, geh ich zurück zum Supermarkt dort vorn und bettle weiter bis zum Ladenschluss.»
Alles klar. Da ist sie, die berühmte Augenhöhe; hier spricht jemand, dem man nichts erzählen muss, mit einem anderen, der schon alles gesehen hat: peer to peer, expert to expert. Und doch ist hier etwas am Werk, das eigentlich das Herz des Carillon-Projekts ausmacht: der Rollenwechsel. Durch die Mitarbeit im Carillon als Straßenbotschafter, wird aus dem, der nimmt, einer, der gibt: guten Rat und konkrete Hilfe, aufmunternde Worte und vor allem ein lebendes Beispiel dafür, dass man sein Leben wieder selbst in die Hand nehmen kann. Auch andere der zehn bis 15 fixen Botschafter_innen, die in der Vergangenheit wohnungslos waren oder es nach wie vor sind, verdanken ihrer Verankerung im Carillon neue Lebensperspektiven.

Carillon-Crash-Kurs.

Die Idee geht zurück auf das Jahr 2015, als Louis-Xavier Leca in Paris die gleichnamige Initiative ins Leben rief, die in Folge in sieben weiteren französischen Städten Fuß fasste. Öffentliche und private Geldgeber unterstützen das Projekt, wobei die Mitarbeiter_innen der Sponsor-Unternehmen (derzeit z. B. eine Supermarktkette oder ein 5-Sterne-Hotel) im Gegenzug einen Carillon-Crash-Kurs erhalten. In Marseille war es Sarah Gorog, die ihre Erfahrungen als Barbetreiberin und Veranstalterin in den Aufbau des lokalen Carillon-Netzwerks einfließen ließ und derzeit Leiterin des Trägervereins La Cloche Sud ist. Dieser Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, die gesellschaftliche Teilhabe einer immer größer werdenden Anzahl wohnungsloser und prekär lebender Menschen zu fördern.
Eines der Programme, Le Carillon, versucht eben über das Netzwerk von solidarischen Geschäften gute nachbarschaftliche Beziehungen zwischen Menschen mit und ohne Wohnung zu stiften und damit auch das Selbstverständnis der beteiligten Personen ins Wanken zu bringen. So sollen Obdachlose oder sozial Benachteiligte ermutigt werden, mit dem Sesam-öffne-dich-Gutschein bewaffnet die Schwelle zum «Leben der Anderen» zu überschreiten und sich z. B. ein reichhaltiges Mittagessen in einem Partnerlokal zu gönnen und anschließend noch bei Mademoiselle Cupcake vorbeizuschauen. «Einfach himmlisch!», schwärmt eine regelmäßige Besucherin von Mikala, einem vegetarischen Restaurant am Cours Julien, der Ausgehmeile Marseilles, wo wir sie beim Mittagessen antreffen. Dann mustert sie mich und Mat, meinen Gesprächspartner vom Carillon, eingehend und fragt ihn schließlich geradeheraus: «Sag, hast du heute mit Gutschein bezahlt oder mit deinem eigenen Geld?» Mat schmunzelt nur und lässt die indiskrete Frage unbeantwortet.

Höflichkeit verhilft zum Locus.

«In was für einer Gesellschaft leben wir, dass wir für solche Selbstverständlichkeiten jetzt Aufkleber brauchen!», echauffiert sich Souleimane Sy, Barinhaber des Champ de Mars, eines der ersten Carillonneurs, wie die teilnehmenden Geschäfte genannt werden. «Bei mir haben die Leute immer schon ein Glas Wasser bekommen oder durften die Toiletten benützen, aber ich verlange auch einen gewissen Respekt.» Wie zur Illustration betritt ein Mann das Café und geht schnurstracks auf die Toiletten zu. «Bonjour, Monsieur!», erinnert ihn Sy an das Einmaleins der Höflichkeit und erntet tatsächlich ein «Dürfte ich bitte Ihre Toilette benützen?» als Reaktion.
Und das mit den Toiletten ist in Marseille so eine Sache. Mat, Carillon-Botschafter der ersten Stunde, erklärt mir, dass es, bevor Le Carillon mit den ersten Heftchen daherkam, in Marseille ganze zwei öffentliche Toiletten gegeben habe. «Mit dem Carillon waren es dann auf einen Schlag 40 mehr …», grinst Mat, den es vor 25 Jahren von Polen nach Frankreich verschlagen hat, wo er als einer der ersten Verkäufer der Straßenzeitung Macadam begonnen hat. «Viele Leute wollen helfen, aber wissen nicht, wie. Le Carillon versucht zu zeigen, dass jede_r etwas tun kann – «chacun pour tous, jede_r für alle». Im letzten Jahr habe man ausgerechnet, dass rund 1000 Dienstleistungen pro Monat von ca. 200 Personen in Anspruch genommen wurden. 1000 Tropfen auf den heißen Stein, doch die Regenmacher_innen vom Carillon arbeiten daran, den Stein unter Wasser zu setzen – und sich selbst überflüssig zu machen. 

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