Die alte Frau und das MeerArtistin

Fast 40 Jahre lang lebte die österreichisch-amerikanische Dichterin ruth weiss (1928–2020)in einem Waldhaus an der kaliforni­schen Pazifikküste. Der Autor und Literaturwissenschaftler Thomas Antonic hat sie dort besucht und in den letzten Jahren ihres Lebens filmisch porträtiert.

TEXT: HELMUT NEUNDLINGER
FOTO: JANA MADZIGON

Wenn von Beatdichtung die Rede ist, fallen meist drei Namen: Jack Ke­rouac, Allen Ginsberg, William S. Burroughs. Ohne Zweifel haben diese drei Autoren mit ihren Werken On the Road (Kerouac), Howl (Ginsberg) und Naked Lunch (Burroughs) die amerikanische Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg revolutioniert und Generationen von Dichter_innen weltweit beeinflusst. Lange Zeit schien Beat als Kunst- und Le­bens­form fast ausschließlich «a man’s world» zu sein, bis in den 1990er-Jahren eine intensive Beschäftigung mit den vergessenen Frauen unter den Beat-Literat_innen einsetzte.
Zu diesen späten Ehren kam auch eine, die selbst gar nicht auf eine «Woman of the Beat Generation» reduziert werden wollte. Die Aufmerksamkeit, die ihr in der Folge zuteil wurde, genoss sie aber doch und begann sich an jene Jahre zu erinnern, die ihr später den zweifelhaften Ehrentitel «Goddess of the Beat Generation» einbrachten. Ihr Name: ruth weiss, geboren als Ruth Weiss 1928 in Berlin, wo ihr aus Wien stammender Vater in einem Nachrichtenbüro arbeitete. Ihren Namen schrieb sie später in konsequenter Kleinschreibung, als Zeichen des Widerstands gegen jede Form von Ordnungsmacht. Einer solchen «Macht» war sie schon früh in ihrem Leben gewaltsam ausgesetzt gewesen. Als Kind jüdischer Eltern musste sie gleich zweimal vor den Nazis fliehen: 1933 zunächst nach Wien, 1938 schließlich in die USA, wo sie nach dem Erlernen der neuen Sprache rasch damit zu experimentieren begann.
«Ich traf ruth das erste Mal 2012, als ich sie im Amerlinghaus interviewte», erzählt Thomas Antonic, 1981 in Bruck an der Mur geboren und dort aufgewachsen. Ein Schlagzeug befreite ihn im Jahr 1993 aus einer eher langweiligen Kindheit. Mit 16 wurde er von einem Kafka lesenden und stets schwarz gekleideten Sänger entdeckt, der zufällig an seinem Haus vorbeikam, als Antonic gerade übte. Gemeinsam gründeten sie die Gothic-Dark-Wave-Band Heumond aus Mitteleuropa – in Anspielung auf eine frühe Erzählung von Hermann Hesse.

Wien im Herzen.

Literatur und Musik begleiten Antonic bis heute. Und seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit den transnationalen Beziehungen zwischen der Beat-Kultur und österreichischer Literatur. Gestoßen war er auf diesen Zusammenhang über seine Arbeit an Werk und Leben des Grazer Dramatikers Wolfgang Bauer (1941–2005). Ihm widmete er seine Dissertation, die 2018 als 600 Seiten starke Biografie im Ritter Verlag erschien. Bei seinen Recherchen entdeckte er unter anderem die Dichterin mit biografischem Wien-Bezug. «Als ruth 2013 wieder nach Wien kam, traf ich sie erneut, um Fragen zu ihrem Schreiben und Leben zu klären. Im Jahr darauf konnte ich im Rahmen eines Stipendiums zum ersten Mal ihren literarischen Vorlass besichtigen, der im Archiv der University of Berkeley aufbewahrt wird. Dort gibt es einen umfassenden Beat-Schwerpunkt.» Gegenüber Antonic betonte ruth weiss ihre starke Verbundenheit mit der Stadt: Sie trage Wien immer in ihrem Herzen, weil sie hier die prägenden Jahre zwischen 5 und 10 verbracht habe. Dennoch dauerte es 60 Jahre, bis sie wieder einen Fuß auf Wiener Boden setzte: Im Jahr 1998 kam sie auf Einladung von Christian Ide Hintze, dem ebenfalls von Beat-Lyrik beeinflussten Autor und Mitbegründer der «schule für dichtung», in ihre Kindheitsstadt zurück und empfand die Aufnahme als so herzlich, dass sie in den Folgejahren regelmäßig wiederkehrte. Mit Christa Stippinger von der edition exil fand sie auch eine engagierte Verlegerin, die mehrere zweisprachige Bände mit poetischen Werken von ruth weiss publizierte.
Für Thomas Antonic ist weiss nicht nur eine kaum in eine Schublade passende Dichterin, sondern auch eine Art protofeministische Pionierin. «Im Jahr 1950 durchquerte sie mit ihrer damaligen Liebhaberin und einer Schreibmaschine die USA per Autostopp, eine für damalige Verhältnisse fast unvorstellbare Sache. In ihrem Buch Gallery of Women aus dem Jahr 1959 porträtierte sie bewusst wenig bekannte Künstlerinnen, um dem männlichen Übergewicht entgegenzuwirken.» 1952 schlug weiss ihre Zelte in San Francisco auf und blieb dort, abgesehen von einer zweijährigen Unterbrechung, über 30 Jahre. Rasch entstand der Kontakt zu Pro­tagonisten der Beat-Szene wie Jack Kerouac und Bob Kaufman, dem «schwarzamerikanischen Rimbaud». weiss hielt sich am Rand und orientierte sich eher an den Außenseitern als an den «big names» wie Allen Ginsberg, dessen bourgeoise Arroganz sie nicht ausstehen konnte.
«Für lange Zeit hat ruth sehr abstrakt und surrealistisch gearbeitet», erzählt Antonic. «Die Vergangenheit war in ihren Texten nicht präsent, abgesehen von ihrer Flucht vor den Nazis, die sie 1958 niedergeschrieben hat. Durch die späte Kontextualisierung im San Francisco der 1950er- und 1960er-Jahre hat sie das Ganze noch einmal aufgerollt und begonnen, autobiografische Langgedichte zu schreiben.»

Improvisationen.

In der Frühzeit der Beat Generation war ruth weiss eine der ersten, die mit Jazzmusikern arbeitete, indem sie ihre Poesie zu den Sessions der Musiker_innen improvisierte. Da sie im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen keine Schallplatte aufnahm, war ihr Einfluss diesbezüglich vollkommen in Vergessenheit geraten. «Ich schrieb einen Essay darüber, und dann entwickelte sich auch die Idee, ihr eine ganze Biografie zu widmen», erzählt Thomas Antonic. Und so kam eines zum anderen: Robert Dasanowsky, der damalige Präsident der nordamerikanischen Austrian Studies Association, riet Antonic, die biografischen Interviews zu filmen. In der Folge schrieb Antonic gemeinsam mit einer estnischen Filme­macherin ein Treatment für eine Dokumentation über ruth weiss’ Leben. «Es stellte sich aber heraus, dass der strikte Plan mit ruths Neigung zur Spontaneität unvereinbar war. Also nahm ich die Sache selbst in die Hand und entwickelte den Film alleine weiter.» Dasanowsky unterstützte Antonic als Produzent und stellte auch den Kontakt zu dem in Wien lebenden Co-Produzenten Anthony Jacobsen her, bei dessen Produktionsfirma der Film unter dem Titel One more step west is the sea: ruth weiss nun erschienen ist. Entstanden ist eine poetische Reise zur Dichterin, die Antonic teilweise zu ihren Auftritten begleitete, vor allem aber in ihrem malerischen Haus im Wald bei Albion, einem 160-Einwohner_innen-Ort am Pazifik, besuchte und dort zu ihrer Arbeit befragte. Dort stieß Antonic auch auf jene prekären Schätze aus ihrem persönlichen Archiv, die bis in die Zeit vor der Flucht zurückreichen. Besonders berührend ist jene Szene, in der weiss ihm ihr Schulheft aus dem Jahr 1938 zeigt – mit der Eintragung des «Machtwechsels» am 13. März 1938, als die Kinder gezwungen wurden, die neue Fahne des NS-Staates ins Schulheft zu zeichnen.
«Als ruth im Jänner 2019 in kurzer Zeit drei Schlaganfälle hintereinander erlitt, besuchte ich sie im Spital, und es sah nicht gut aus. Drei Monate später stand sie aber tatsächlich noch einmal auf der Bühne», erzählt Antonic. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits mehr als 30 Stunden Material für seinen Film gesammelt. Dieser zeigt eine behutsame und immer wieder – trotz Alter und tragischer Lebensgeschichte – erstaunlich fröhliche Begegnung mit einer Künstlerin, deren wichtigste Kategorie das Jetzt war, in dem ihre Dichtung entstand, samt all jenen folgenreichen Begegnungen, die sich in ihrem Leben zu einer losen Kette von Beziehungen, Freundschaften und künstlerischen Zusammenarbeiten auffädelten.
Wenn das Werk nun im Rahmen des österreichischen Filmfestivals Diagonale in Graz seine Premiere erlebt, wird ruth weiss leider nicht mehr dabei sein können. Sie starb am 31. Juli 2020 in Albion. «Ihr Geist» aber, so heißt es im Abspann des Films, «wird weiterleben.»

P.S.: Die Premiere des Films One more step west is the sea: ruth weiss findet am 10. Juni im Grazer Schubert-Kino statt, am 11. Juni läuft er im Annenhof-Kino. Weitere Screenings auf internationalen Festivals sind in Planung.

Translate »