«Die Arbeiterklasse ist sichtbar geworden»tun & lassen

Am 1. Mai vor 130 Jahren zogen zum ersten Mal Arbeiter_innen im großen Stil organisiert durch Wien. Michaela Maier, Geschäftsführerin des Vereins für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, im Gespräch über diese Tradition.

Interview: Reinhold Schachner, Fotos: Kay von Aspern

Wie ist es zur allerersten Maifeier im Jahre 1890 gekommen?

Im Juli 1889 gründeten Sozialisten aus aller Welt die 2. Internationale. Dort wurde der Entschluss gefasst, am
1. Mai 1890 eine internationale Kundgebung für den Achtstundentag abzuhalten. Victor Adler hat die Organisation für Österreich übernommen. Das Datum des 1. Mai wurde aus Solidarität zur angloamerikanischen Arbeiterbewegung gewählt, da diese schon Achtstunden-Bewegungen gegründet hatte, und 1886 ist es in Chicago am 1. Mai, am sogenannten Moving Day (an diesem Tag liefen traditionellerweise Arbeitsverträge aus), zu Ausschreitungen gekommen, was man als Anlass genommen hat, den 1. Mai als Tag der Arbeit zu begehen.
In Wien sind vorher am 1. Mai Adelige und die Großbourgeoisie mit ihrem Korso vom Stephansplatz in den Prater zum Lusthaus gefahren – es war wie ein Frühlingsfest. 1890 wurde dieses Bild gebrochen, weil die Arbeiter sternförmig aus ihren Bezirken in die Innenstadt und weiter in den Prater gezogen sind, um dort ein Fest zu begehen. Es war eine Mischung aus Demonstration mit der Forderung Achtstundentag, also acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit und acht Stunden Schlaf – was keine Selbstverständlichkeit gewesen ist.

Hat es neben dem Achtstundentag weitere relevante Forderungen gegeben?

Natürlich, aber der allererste 1. Mai ist schon sehr geprägt von der Achtstundentag-Forderung gewesen. Im Prinzip hat es geheißen, geregelte Arbeitszeit, Arbeitsschutz und Altersversorgung, also Regelungen, die wir als selbstverständlich erachten, bzw. wenn wir vom Achtstundentag reden, ist das eine Regelung, die schon wieder zurückgenommen wird.
Sie schreiben als Mitherausgeberin des Buches Acht Stunden aber wollen wir Mensch sein*, dass die alljährlichen Feiern des 1. Mai wohl das bekannteste Beispiel einer «Ästhetisierung der Politik» darstellen würden. Wie ist das zu verstehen?
Victor Adler kommt aus einem sehr reichen Milieu. Er war Wagnerianer und wollte mit dieser Inszenierung nahezu ein Gesamtkunstwerk schaffen: die Synthese von Politik, Bildung und Kultur. Wir dürfen nicht vergessen, was das im Jahr 1890 in den Leuten bewirkt hat. Es hat nach innen und nach außen gewirkt. Die Arbeiterklasse ist sichtbar geworden und zugleich wurde sie innen gestärkt. Die Arbeiter und Arbeiterinnen haben gesehen, nicht nur mir geht es so schlecht, nicht nur ich werde ausgebeutet, sondern wir sind so viele, was wahnsinnig gestärkt hat.

Ist die oft kolportierte Anzahl von 100.000 Teilnehmer_innen beim allerersten Maiaufmarsch 1890 haltbar?

Anhand der Polizeiberichte ist diese Anzahl nachvollziehbar – es war eine Massendemonstration. Heutzutage ist es unterschiedlich, es kommt auch immer auf die aktuelle politische Situation an, trotzdem gehen noch immer verblüffend viele Menschen mit.

Heuer darf der Maiaufmarsch aus bekannten Gründen nicht stattfinden. Sehen Sie darin ein Problem für die Zukunft, denn eine Unterbrechung einer Tradition ist dieser meist nicht förderlich?

Wir befinden uns in einer prekären Situation. Natürlich hat man 1933 den 1. Mai verboten und mit dem Kriegsermächtigungsgesetz das Parlament ausgeschaltet. Mit dem Austrofaschismus und dem Nationalsozialismus wissen wir, wie die Geschichte weitergegangen ist: Versammlungs-, Demonstrationsverbot etc. Was jetzt passiert hat einen grauslichen Beigeschmack unserer Geschichte.
Man muss jetzt die jüngeren Menschen wieder erreichen, denn man kann den Schub der Technologisierung in den letzten Jahren ein wenig mit der Industrialisierung vergleichen. Man sagt, die Flexibilisierung sei für die Frauen besonders gut, sie können, während sie arbeiten, die Kinder hüten und hutschen – was soll das!? Diese Frauen haben überhaupt keine Vertretung. Als Fabrikarbeiterin kann ich mich wenigstens gewerkschaftlich organisieren. Die Individualisierung macht es aber schwierig, die Umstände sichtbar zu machen. Es braucht daher wieder ein Bewusstsein dafür, sich zusammenzutun. Vielleicht besteht in der Coronakrise auch eine Chance zur Politisierung.

*Das Buch ist vergriffen, bspw. führt es die Städtische Hauptbücherei
www.vga.at