Die Bauchseite der Wuchtelvorstadt

20 Jahre Augustin: Jahrgang 2002 – Vom ersten Anstoß

Vor dreizehn Jahren erschien der Augustin zum ersten Mal mit Fußballdoppelseite. Heute gibt es sie immer noch. Und sogar der Wiener Regionalfußball ist (gerade) noch am Leben, findet Florin Mittermayr, der erste Fußball-Redakteur des Augustin.

Als Ende Juni 2002 mit der hundertsten Augustin-Ausgabe eine regelmäßige Unterhaus-Fußballberichterstattung eingeführt wurde, schien die Welt noch in Ordnung: Das Team Wiener Linien hieß noch Gaswerk/Straßenbahn, von der Holztribüne am Gänsehäufel war noch gleichermaßen die Kampfmannschaft des Polizeisportvereins und der Freiluftbereich der Polizei-Sauna zu bestaunen – und beim frisch in die Wienerliga zurückgekehrten FavAC nahm Goalgetterlegende Thomas Weigel gerade die vierzigste Krönung zum Torschützenkönig ins Visier. Der erste Besuch an dessen Heimstatt in der Kennergasse sollte für die Augustin-Fußballseite zum Glücksfall werden: Nicht nur weil Thomas Weigl mit heißblütigem Herz, unwiderstehlichem Schmäh und ungezügelter Leidenschaft eine Spielerpersönlichkeit darstellte, wie sie in den oberen Ligen schon damals fast verschwunden war. Nicht nur weil der damalige Präsident und Taxi-Unternehmer Ernst Schlecht gerade in persönlicher und heroischer Einzelunternehmung mit der Renovation der alten Holzbänke zugange war – was für eines der stimmigsten Bilddokumente im Vorstadt-Teil des Augustin sorgen sollte. Sondern nicht zuletzt durch den Kontakt mit den roten Teufeln und dabei allen voran mit Julo Formanek – damals Betreiber der Internetplattform wienerliga.at und Kenner ebenso jeder g’mahten Wiesen wie jeder Unebenheit auf allen G’stetten und Plätzen Wiens. Erst seine Bekanntschaft und Hilfsbereitschaft ermöglichte unvergleichliche Nahaufnahmen von der Seele der Wiener Lederwuchtel: Geschichten wie jene über den uruguayanischen Fußballprofi Carlos Sintas, der als Stadtführer im Wiener Gemeindebau ebenso zuhause ist wie als klassischer Konzertveranstalter am Río de la Plata. Oder über Franz Hasil, der dem Beruf des Trafikanten mit Fachwissen, Nonchalance und goldenem Ehrenzeichen wahrhaftig neue Würde verlieh. Den an Konsequenz nur schwer überbietbaren Lebensweg von Gerhard Traxler, der 1968 allen Widerständen zum Trotz seiner Zwillingsschwester zu Liebe mit dem USC Landhaus den ersten Frauen-Fußballclub Österreichs ins Leben rief. Und die Geschichte von Alex Rakowitz und seinem Wiener Gastarbeiterturnier, in dessen erstem Finale die Wiener Espresso-Truppe Cafe Gogi über den viermaligen jugoslawischen Cupsieger OFK Belgrad mit 2:0 triumphierte.

Lebensrealität statt Haute-Volée

Beileibe nicht nur dies fand seinen Ausgang an jenem Nachmittag am FavAC-Platz bei der Recherche der zweiten Fußball-Doppelseite in der Augustin-Historie. Ins Resultat derselben hat sich denn auch das Programm für die nächsten dreizehn Jahre hineingeschlichen. So war in der August-Nummer 2002 zu lesen: «Ob der Gegner oder die Liga klingende Namen haben, scheint für andere Traditionsvereine wichtiger zu sein als für den FavAC. Das Selbstverständnis als Favoritner Lokalkolorit ersetzt großspurige Träume von der Haute-Volée der Fußballwelt.» Dem Publikum eine andere und reellere Welt vor Augen zu führen als jene der alkoholfreien Plastikbecher, der zwangsbeglückenden Schalensitze und der angepassten Großverdiener, ist seither wohl Hauptanliegen der Augustin-Fußballredaktion geblieben. Und dass der aufrichtige und (nahezu) unbezahlte Einsatz für die eigene Lebensrealität nicht nur mehr Charakter braucht, sondern auch viel atemberaubender anzusehen ist als etwa jener des Profis in der Champions-League-Vorrunde, wird denn auch künftig die Kernessenz bleiben. Eine Bilanz kann dabei aus Augustin-Sicht nur positiv ausfallen: Mit Koryphäen wie Hannes Gaisberger und Wenzel Müller ist die Fußballseite heute an Qualität, Lebendigkeit und Vielfalt wohl nur schwer zu überbieten. (Zu erwähnen ist auch Helmut Neundlinger, der jahrelang Bestandteil der Augustin-Fußballredaktion gewesen ist. Mittlerweile fasst er für die Tageszeitung «Der Standard» Fußballnetzwerkanalysen in Worte, Anm. d. Red.)

Die Sterne über dem Wiener Fußballhimmel drohen indes zu verschwinden – ob sie nun Red Star, White Star oder Yellow Star heißen oder hießen – oder vielleicht auch Wollers Komet. Denn für den Wiener Regionalfußball sieht die Gegenwart keineswegs rosig aus: Allzu viele Vereine stellten in den vergangenen Jahren den Spielbetrieb ein, oder fielen (notgedrungen) dem Fusionierungswahn zum Opfer. Fehlt es doch im Zeitalter des verpflichtenden und alleinseligmachenden Kapitalertrags nicht nur zunehmend an lokalen Sponsor_innen und somit am nötigen Kleingeld, sondern auch zusehends an Idealisten, die freiwillig einen Gutteil eigenes Geldes und dazu noch ihre Freizeit aufwenden, um unverdrossen immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Und bis die Obrigkeit begreift, dass mit dem Jahresgehalt eines einzigen Bundesliga-Kickers im Regionalfußball mehr für den Breitensport gemacht werden könnte als mit zehn Stadtmarathonläufen zusammen; bis offenbar wird, dass ein paar Akademien eine funktionierende flächendeckende Infrastruktur im Fußball-Nachwuchs keineswegs ersetzen kann, ist wohl der letzte Tropfen Donau im Schwarzen Meer angekommen. Doch noch gibt es von der Wienerliga bis in die Zweite Klasse knapp über hundert selbstständige Fußballvereine, noch wird auf über sechzig Fußballplätzen im WFV-Ligabetrieb allwöchentlich nach allen Regeln der Leidenschaft getanzt. Hingehen dürfte sich auszahlen: Selten stand mehr auf dem Spiel …