Die belebende Botschaft aus Graztun & lassen

Michael Gruberbauer – Ein Sternenforscher wird Chefredakteur

Ein Chefredakteur, der den Zusammenhang von Urknall und revolutionärer Bewegung erklären kann? Das kann die «Volksstimme» zum ersten Mal in ihrer 72-jährigen Geschichte nun vorweisen. Ex-«Volksstimme»-Journalist Robert Sommer über den Astronomen und Publizisten Michael Gruberbauer.

Die Leute, die am Nordpol wohnen, haben es gut. Ausnahmslos alle Wege, die von dort weggehen, führen in den Süden. Bedauerlicherweise wohnt niemand am Nordpol, dem oder der die Option «Süden» zur Verfügung steht. Gäbe es Bewohner_innen, teilten sie möglicherweise ein weiteres Privileg: Sie wären immun gegen die Verblendungsabsicht, die hinter der Erfindung des Wortes ­«Parallelgesellschaft» zu ahnen ist. Denn das Wort «parallel» würde den Nordpolaner_innen unbekannt sein. Zwei Geraden, die – sagen wir von St. Pölten aus – parallel nach Norden verlaufen, sind spätestens am Nordpol überhaupt nicht mehr parallel, sondern sie kreuzen einander sogar.

Man muss nicht immer todernst gegen das Schreckensbild einer muslimischen, die westlichen Werte verachtenden Parallelgesellschaft argumentieren. Man kann dieser Angstmach-Fiktion auch mit ironischer Wissenschaftlichkeit zu Leibe rücken. Am besten können das die, die in einem bestimmten Wissenschaftsgebiet fit und kompetent sind und mit dieser Kompetenz auch spielen können. Das linke Monatsmagazin «Volksstimme» bzw. der Vorstand der KPÖ, der hinter dem Magazin steckt, hat sich einen jungen Quereinsteiger «geangelt», der diese Eigenschaften besitzt: den Astrophysiker Michael Gruberbauer.

Angst und Astrophysik.

Mit den Waffen der nicht-euklidischen Geometrie den Menschen die Angst vor dem Verschwinden der «abendländischen Werte« zu nehmen, ist natürlich kein ganz ernst gemeintes Unterfangen. Gruberbauer publizierte einen entsprechenden Text darum auch nicht in der weitgehend ironiefreien Print-«Volksstimme», sondern im Blog auf deren Homepage, wo der feine Schmäh geführt werden kann. Augenzwinkernd berichtete Gruberbauer auch von seinem Versuch, mithilfe der Mathematik das Dogma von der «verlorenen Stimme» zu hinterfragen. Er könne rechnerisch zeigen, dass entweder jede oder keine Stimme verloren und die ständige Wahl des «kleineren Übels» einer der Gründe für den gesellschaftspolitischen Stillstand in Österreich ist.

Die Hauptstationen seines prä-kommunistischen Lebens sind die Universität Wien und die Saint Mary’s University in Halifax, Kanada, wo er von 2009 bis 2013 lernend, lehrend und forschend lebte. «Entwicklung und Anwendung von wissenschaftlicher Software zur numerischen Analyse von wahrscheinlichkeitstheoretischen Problemen in der ­stellaren Astrophysik unter Verwendung großer Modellgitter und Datenbanken.» Wie wird einer, der einen Lebenslauf vorweist, der für Durchschnittsleser_innen wie in einer Fremdsprache verfasst erscheint, redaktioneller Koordinator und Vertriebschef der Volksstimme? Die apokalyptische Grundstimmung der Gesellschaft gegen Ende des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts ließ den heute 34-Jährigen nicht unberührt. Sein Politisierungsprozess basiert auf zwei Erfahrungen: dem Schock des durch den Menschen hervorgerufenen Klimawandels und den inflationär auftauchenden und eskalierenden Prognosen einer verheerenden globalen Wirtschaftskrise. «Bei mir und anderen Wissenschaftskolleg_innen führten die Debatten wie selbstverständlich zum Hauptwerk von Marx, «Das Kapital», erinnert sich Gruberbauer.

Nicht mehr verstecken.

Kollektiv eignete man sich die Marx´sche Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit an. Immer klarer wurde für Gruberbauer, dass die besorgten Teile der Gesellschaft von den Herren und Damen der akademischen Welt erwarteten, die Mauern des Wissenschaftsbetriebs zu überspringen und eine Sprache zu finden, die von der Öffentlichkeit verstanden würde. Einer der weltweit bekanntesten Astronomen, der 1996 verstorbene US-Amerikaner Carl Edward Sagan, hatte diese notwendige Überwindung der akademischen Einigelung vorgelebt. Es war seine Idee, mithilfe einer goldenen Datenplatte auf den Raumsonden Voyager 1 und Voyager 2 eine Friedensbotschaft der Menschheit an eine außerirdische Intelligenz anzubringen. Friedensbereitschaft forderte er auch von der Regierung seines Landes ein: Sagan war einer der prominentesten Gegner des Vietnamkriegs und später von Reagans Außenpolitik. Immer unerträglicher empfand Gruberbauer schließlich seine eigene fehlende radikal-gesellschaftskritische Praxis. «In Kanada war es damals noch schwer, als bekennender Marxist, Sozialist, Kommunist Gehör zu finden. Das hat sich ja inzwischen geändert. Sozialismus hat, vor allem unter den Jugendlichen in den USA und Kanada, die Assoziation des Teuflischen verloren. Es waren dann schließlich Nachrichten aus Graz, so sensationell, dass sogar kanadische Medien darüber berichteten, die bei mir zum Entschluss führten, mich bei der KPÖ zu melden. Graz mit seinem Wahlergebnis – 20 Prozent für die Kommunist_innen – zeigte mir, dass marxistisch inspirierte Systemkritiker_innen sich nicht mehr verstecken müssen.»

Regen in Moskau.

Gruberbauer wurde Mitarbeiter der «Volksstimme», wo er sehr schnell – ab Februar 2016 – zum redaktionellen Leiter avancierte. Die Voraussetzung dieses gewaltigen Sprungs von der Erforschung des Urknalls zu den Niederungen linker Publizistik war, dass die neue «Volksstimme», ein nur noch im Monatsrhythmus erscheinendes Magazin, sich nicht mehr als Zentralorgan der KPÖ definierte. Michael Gruberbauer wird wohl nie erleben, was der Redaktion noch in den 90er Jahren in der damaligen Tageszeitung «Volksstimme» (der Schreiber dieser Zeilen hatte zu dieser Zeit die Funktion des Leiters der Wiener Lokalredaktion inne) widerfuhr: Ein Parteiobmann verweigerte die Veröffentlichung eines nordkoreakritischen Artikels und erteilte dem betroffenen Redakteur den Auftrag, doch lieber etwas über die Tatsache zu schreiben, dass Pjöngjang die einzige Stadt der Welt ohne Slums sei. Die neue Volksstimme sei demgegenüber eine Plattform, in der Kommunist_innen, neben allen sich alternativ definierenden Linken, in einem möglichst breiten Themenspektrum radikale Kritik am kapitalistischen System leisteten, sagt Gruberbauer.

Dass er die «Marke Volksstimme» als ein brachliegendes, ergo vielversprechendes Logo betrachte, mag ältere Semester überraschen, die die Disziplinierung des alten Zentralorgans durch die Dogmatiker_innen des «realen Sozialismus» miterlebten. Das Image der Zeitung brachte das Bonmot von den «Volksstimme»-Journalist_innen, die ihren Regenschirm aufspannen, wenn es in Moskau regnet, adäquat zum Ausdruck. Aber die Jungen assoziieren nicht mehr Stalin mit der Zeitung, meint der neue Chefredakteur – und verweist auf das jährliche Volksstimmefest im Prater, wo zehntausende junge Besucher_innen nicht gerade den Eindruck erwecken würden, ihre Hommage an Breschnew und Honecker zu zelebrieren …