Die Blume der Gerechtigkeittun & lassen

eingSCHENKt

Gerlinde war gerade da. Sie schlägt sich als Gebrauchsgrafikerin durch den Alltag. Ihr dreijähriger Sohn leidet seit seiner Geburt an schwerem Asthma. Seine Betreuung braucht viel Zeit. Das Einkommen ihrer Arbeit ist unregelmäßig und gering. Loch auf, Loch zu. Jetzt in der Krise rechnet sie noch mehr: einmal die Miete, einmal das Heizen, einmal das Telefon. Kaputt werden darf nichts. Gerlinde leistet Außergewöhnliches, leisten kann sie sich nichts. Manchmal muss sie Hilfe aus der Mindestsicherung beantragen. «Es ist eigentlich unfassbar, und es macht mich wütend», sagt Maria. Maria hat zwei Kinder im Alter von 11 und 16 Jahren. Vor einigen Wochen musste sie in Kurzarbeit gehen. Die Alimente wurden herabgesetzt, weil der Vater der Kinder arbeitslos geworden war. «Da zahlt man den Strom dann einen Monat später und die Heizung auch. Weil es nicht anders geht.» Marias Alltag: Zähne putzen, Deutsch, Biologie, arbeiten, Mathe, Englisch, kochen, putzen, Sportunterricht, Wäsche waschen, für die Firma erreichbar sein. «Wie soll man das alles unter einen Hut bringen?» Das ökonomisch schwächste Drittel der Bevölkerung ist am stärksten von Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit betroffen, Homeoffice findet eher im obersten statt. Aljona arbeitet als Pflegehelferin. Sie hört zu, wäscht, verbindet, bringt das Essen, nimmt Blumen mit, solche mit vielen schönen Blütenblättern. Am Abend gibt’s dann zu Hause noch den eigenen Haushalt.
Aljona, Gerlinde und Maria sind alle beachtliche Leistungsträgerinnen. Die Krise macht deutlich, was die Arbeit von Pfleger_innen, Pädagog_innen, Sozialarbeiter_innen, Hilfsorganisationen, Reinigungskräften und Lebensmittelverkäufer_innen bedeutet. Die Krise macht sichtbar, was ein starker Sozialstaat und ein gutes Gesundheitssystem für uns alle leisten. Die Krise deckt auf, dass wir hier sonst mit einem eingeengten und verkürzten Leistungs- und Gerechtigkeitsbegriff operieren.
Leistungsgerechtigkeit ist wichtig für das Funktionieren einer prosperierenden Gesellschaft. Man darf sie aber nicht mit Markterfolg verwechseln. Auch nicht mit bezahlter Arbeit. Um die Mutter mit Kindern, die sich mit drei prekären Minijobs abstrampelt, dreht sich’s dann genauso wenig wie um den Hilfsarbeiter am Bau, den Mann im hundertsten mies bezahlten Forschungsprojekt oder die Kindergärtnerin. Die Verantwortung ist groß, das Einkommen klein.
Gerechtigkeit ist eine Blume, deren Blüte viele Blätter hat. Leistungsgerechtigkeit ist eines dieser Blütenblätter. Die anderen sechs sind die Verteilungsgerechtigkeit, die nach Verteilung von Arm und Reich fragt, die Chancengerechtigkeit, die meine Möglichkeiten in den Blick nimmt, die Teilhabegerechtigkeit, die über Mitbestimmung entscheidet, die Verfahrensgerechtigkeit, die mit ausverhandelten Prozessen autoritäre Willkür zu verhindern versucht, und die Anerkennungsgerechtigkeit, die der Beschämung entgegentritt. Und nicht zu vergessen: die Bedarfsgerechtigkeit, also die Frage, was jemand wirklich benötigt. Mit einem Blütenblatt schaut unsere Blume nichts gleich, ohne all die anderen Blätter wäre ihre Schönheit zerstört. Gerechtigkeit ist eine Blume, deren Blüte viele Blätter hat.