Eine drohende Delogierung kann zu existenziellen Krisen führen. Dann ist es wichtig zu wissen, wo man Hilfe bekommt.
Text: Lisa Bolyos
Ein Immobilienunternehmen mit recht pompösem Sitz in Langenzersdorf, NÖ, möchte einen Mieter, der zahlungssäumig ist, aus der kleinen Wohnung im 4. Stock eines Mehrparteienhauses in der Langenzersdorfer Schulstraße rauskriegen. Der Mann – ist er nicht in der Lage, die Mietschulden zu begleichen, weiß er nicht, wo er rechtliche Unterstützung bekommen kann? – verlässt die Wohnung nicht und verursacht vermutlich einen Gasunfall. Er kommt dabei, man kann annehmen, absichtsvoll, ums Leben, viele weitere Mieter_innen werden verletzt, ein Teil des Hauses ist zerstört. Mehrere Zeitungen wissen sofort biografische Details aus dem Leben des Mieters zu berichten, die wohl nahelegen sollen, dass die Gesellschaft um «so einen» nicht trauern muss. Dabei muss sie das.
«In Fällen wie diesem wird von der Polizei und den Medien oft zu schnell kolportiert, dass es sich um einen Suizid handelt. Das ist nicht hilfreich, wenn man Nachahmung vermeiden möchte», sagt Thomas Kapitany, ärztlicher Leiter und Geschäftsführer des Kriseninterventionszentrums am Alsergrund. Über Suizid im Kontext von Delogierung zu berichten, erweist sich also als Spagat: Da ist die Nachahmung, die es zu verhindern gilt; und da ist die Politik der Zwangsräumung, die man als existenzgefährdend beschreiben muss.
Zwangsräumungen verhindern.
Anne Wehrum ist stellvertretende Abteilungsleiterin der Fachstelle für Wohnungssicherung, kurz FAWOS, und es ist ihr täglich Brot, Delogierungen zu verhindern. Fragt man sie, wie man mit der eintrudelnden Räumungsklage umgeht, so ist Schritt Nummer eins: die Post öffnen. Das, so Wehrum, falle sehr vielen ihrer Klient_innen schwer, zumal der Rückstand bei den Mietzahlungen nur selten das einzige Problem ist. «In der Beratung hören wir oft von großer Überforderung, da wird der Kopf in den Sand gesteckt. Es braucht meist einen Freund oder jemanden aus der Familie, der sagt, komm, wir gehen das jetzt an, wir lassen uns beraten.»
Ist die Räumungsklage im Briefkasten, bleibt noch Zeit, aktiv zu werden – und Hilfe zu suchen. Die bekommt man bei der FAWOS, wenn man im privaten oder Genossenschaftssektor zur Miete wohnt, bei der MA40, wenn man von der Gemeinde mietet. «Zwischen der Räumungsklage und dem Räumungsurteil gibt es noch eine Reihe von rechtlichen Möglichkeiten. Je früher man sich Beratung holt, desto einfacher ist es.»
Die Zahl der Räumungsklagen und Kündigungen in Wien hat sich von 21.138 im Jahr 2019 auf 11.831 im Jahr 2020 (jeweils inkl. Geschäftslokale) fast halbiert. Im Jahr 2019 wurden 2.187 Räumungstermine vollzogen, im Jahr darauf waren es 1.567. Diese radikale Reduktion sei klar auf das Covidbegleitgesetz zurückzuführen, meint Anne Wehrum: Mieten wurden gestundet, Räumungen ausgesetzt. «Die Stundungen waren temporär sinnvoll, aber im Grunde verschieben sie das Problem nur. Langfristig rechnen wir damit, dass die Räumungen stark ansteigen. Ob noch dieses Jahr oder erst nächstes, hängt vom Verlauf der Krise ab.»
Traurige Männer.
«Es ist normal, in Krisenzeiten die Lebensfreude zu verlieren», sagt Thomas Kapitany und betont, dass Suizidgedanken nichts seien, wofür man sich genieren müsse. Ebenso wenig muss sich genieren, wer Hilfe in Anspruch nimmt. «Der erste Schritt ist, dass man sich überhaupt an eine andere Person wendet, seine Gedanken ausspricht und nicht alleine damit bleibt.» Professionelle und unmittelbare Hilfe bieten Einrichtungen wie das Kriseninterventionszentrum, der sozialpsychiatrische Notdienst oder auch die Telefonseelsorge (s. Infokasten). In einer Gesellschaft, in der psychische Probleme und Krankheiten immer noch abgewertet werden, muss so ein Angebot speziell niederschwellig sein. «Zu uns können Menschen auch persönlich kommen, im Notfall auch am selben Tag und ohne Termin, und es kostet natürlich nichts.» Niederschwelligkeit ist besonders für Männer ein relevanter Faktor. Sie haben häufig «ein schlechteres Hilfesuchverhalten, sie suchen später und seltener Hilfe, man könnte sagen, Hilfsbedürftigkeit gefährdet eine bestimmte Vorstellung von männlicher Identität». Männer nehmen sich in Österreich rund dreimal so häufig das Leben wie Frauen, das beschämende Gefühl des Versagens in familiären Krisen oder bei Verlust von Wohnung oder Arbeit ist für sie schwerer zu handhaben. Wenn die Wut auf das Umfeld, auf Angehörige oder die Gesellschaft dazukommt, sei der Suizid dann oft auch «mit einer großen Energie an Aggression nach außen» ausgestattet. «Wir Männer», schließt Kapitany, «müssen lernen, dass wir über unsere Gefühle sprechen dürfen.»
Das gemeinsame Problem.
Gerade in der Krise wird sichtbar: Mietrückstand, Arbeitslosigkeit, Schulden, Verarmung – das sind Probleme, die nie nur einen treffen und die nie einer allein durch seine Biografie verschuldet. Eine grundlegende Lösung sieht Anne Wehrum daher auch nicht in der wiederhergestellten Zahlungsfähigkeit einer einzelnen Person: «Ich verrate Ihnen nichts Neues, wenn ich sage, dass es zu wenig leistbaren Wohnraum gibt. Personen, die nicht in ihrer Wohnung bleiben können, haben sehr große Schwierigkeiten, alternative Wohnmöglichkeiten zu finden.»
Politisch und auf dem individuellen Rechtsweg muss man gegen Zwangsräumungen und Wohnungsnot vorgehen; aber es braucht auch Role Models des Scheiterns, von denen sich lernen lässt: Man kann wieder glücklich werden und man kann wieder ein Zuhause haben, nachdem man von einer Delogierung betroffen war. Auch wenn es ein anstrengender Weg ist.
Anlaufstellen und Notrufe bei Krisen und Suizidgedanken:
Kriseninterventionszentrum
Tel.: (01) 406 95 95, Mo–Fr, 10–17 Uhr
Telefonische, persönliche und E-Mail-Beratung
Lazarettgasse 14A, 1090 Wien
kriseninterventionszentrum.at
Telefonseelsorge:
Notruf 142
24 Stunden erreichbar, gebührenfrei
Sozialpsychiatrischer Notdienst
Tel.: (01) 31330
24 Stunden erreichbar
Anlaufstelle bei drohenden und akuten Wohnproblemen:
FAWOS – Fachstelle für Wohnungssicherung
Tel.: (01) 218 56 90-8 50 10
oder (01) 218 56 90-8 50 40
E-Mail: fawos@volkshilfe-wien.at
Sozialzentrum, Stadt Wien, MA 40
Servicetelefon: (01) 4000 80 40
Mo–Fr, 8–18 Uhr
E-Mail: servicestelle@ma40.wien.gv.at