Die eine Hand gibt, die andere nimmttun & lassen

Wird in Europa mehr Milch produziert als konsumiert, dann wird sie als Milchpulver in den Globalen Süden geschickt. Dort brechen lokale Märkte zusammen. Annelies Vilim, Geschäftsführerin der AG Globale Verantwortung, spricht über die Herausforderungen und die nötigen Grenzen entwicklungspolitischer Arbeit.

Interview: Markus Schauta, Foto: Carolina Frank

Österreich hinkt dem international vereinbarten Ziel hinterher, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) für Entwicklungsleistungen zur Verfügung zu stellen. Gerade einmal 0,26 Prozent des BNE hat die Regierung im Jahr 2018 für Entwicklungspolitik freigeschaufelt. Zum Vergleich: Großbritanniens Ausgaben lagen bei 0,7, Norwegens bei 0,94 und Schwedens bei 1,04 Prozent.
Die Entwicklungszusammenarbeit (EZA) hat nicht nur mit mangelndem Budget zu kämpfen, Bemühungen der EZA werden auch politisch untergraben. So hatte die starke Subventionierung des Agrarsektors innerhalb der EU zur Folge, dass mehr und mehr Milch produziert wurde.

Der Selbstversorgungsgrad liegt in Österreich derzeit bei über 160 Prozent. Aus der überschüssigen Milch entsteht Milchpulver, dessen Produktion sich EU-weit alleine in den Jahren 2005 bis 2015 von 870 Tonnen auf 1,5 Millionen Tonnen fast verdoppelt hat. Große Mengen dieses Milchpulvers werden exportiert. Was bedeutet das für die Länder des Globalen Südens?
Annelies Vilim: Ein Teil des Milchpulverexports geht nach Westafrika, darunter Burkina Faso, das ein Schwerpunktland der österreichischen EZA ist. 85 Prozent der Bevölkerung Burkina Fasos sind in der Landwirtschaft tätig. Es gibt dort sieben Millionen Rinder, die viel Milch geben. Allerdings sind die Produktionskosten sehr hoch, und es braucht Unterstützung bei der Infrastruktur, um die Produktion effizienter zu machen. Die Austrian Development Agency (ADA) fördert daher mit einem Projekt den Aufbau ländlicher Entwicklung. Die vor Ort produzierte Milch kostet im Schnitt 91 Cent der Liter. Ein Liter Milch aus importiertem Milchpulver kostet umgerechnet etwa 34 Cent. Das führt zu einer Marktverzerrung, und die europäische Agrarpolitik erschwert somit die Entwicklung des lokalen Milchmarkts. Wenn man lokale Märkte fördern möchte, müsste man sich daher die Politiken ansehen und überprüfen, ob sie die entwicklungspolitischen Zielsetzungen unterstützen oder untergraben. Im Fall Burkina Fasos gibt die eine Hand, was die andere nimmt: Die österreichische EZA investiert in den lokalen Markt, der über den Umweg von EU-Förderungen im europäischen Agrarsektor gehemmt wird.

Viele Länder des Globalen Südens sind reich an Rohstoffen. Sie verfügen über Gold, Diamanten, Lithium und Coltan, um nur einige zu nennen. Müssten diese Staaten durch den Abbau dieser Rohstoffe nicht gewaltige Gewinne machen?

Vilim: Industriestaaten wollen sich den Zugang zu wichtigen Rohstoffen wie Gold, Lithium etc. sichern. Das tun sie durch bilaterale Investitionsabkommen (BIT), die im Rahmen von Rohstoffstrategien mit rohstoffreichen Ländern abgeschlossen werden. Das tut auch Österreich. Dabei geht’s um Investitionssicherheit für internationale Firmen. Die Abkommen gehen allerdings vielfach so weit, dass Unternehmen staatliche Steuer- und Umweltmaßnahmen anfechten können, wenn diese eine erwartete Rendite oder Investition reduzieren. Hinzu kommt, dass die vor Ort gewonnenen Rohstoffe vielfach in anderen Ländern weiterverarbeitet werden. Dadurch entgehen den Ländern des Globalen Südens viel Geld und Einkommen. Das ist ein Drama, weil dieses Geld letztendlich in den Staatskassen fehlt.
Im Rohstoffsektor kommt es außerdem zu regelmäßigen Verletzungen von Menschenrechten durch Umsiedelung, Umweltverschmutzung und Zerstörung von Lebensgrundlagen. Daher würden wir empfehlen, dass Österreich seine bilateralen Investitionsabkommen prüft, um zu sehen, wie BITs den politischen Gestaltungsspielraum von Ländern des Südens einschränken.

Auch durch Steuervermeidung und -hinterziehung durch international agierende Unternehmen entgehen den Staaten des Globalen Südens wichtige Einnahmen.

Vilim: In den Staaten des Globalen Südens machen die Steuereinnahmen durchschnittlich 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. In Ländern mit höherem Einkommen, wie Österreich, liegen die Einnahmen bei 30 Prozent. Dieses Geld fehlt natürlich, wenn es darum geht, Infrastruktur, Gesundheits- und Bildungssysteme aufzubauen. Um Investitionen für internationale Unternehmen reizvoll zu machen, bieten manche Länder vergünstigte Steuersätze an. Etwa Albanien, wo österreichische Unternehmen einen geringeren Steuersatz von 5 anstelle von 15 Prozent bezahlen. Vom Standpunkt Österreichs aus geschieht das im Sinne einer Förderung der Auslandswirtschaft. Das ist aus österreichischer Sicht verständlich, nur muss man sich den Folgen dieses Handelns bewusst sein. Dem albanischen Staat entgehen dadurch Einnahmen, die für mögliche Investitionen in die Infrastruktur oder im Gesundheitsbereich fehlen. Gleichzeitig investiert Österreich EZA-Gelder in den albanischen Bildungssektor. Auch hier gilt: Die eine Hand gibt, die andere nimmt. Diesen Widerspruch gilt es durch entsprechende Abstimmung unterschiedlicher Politikfelder aufzulösen.
Die Gelder, die von der OECD im Zuge der EZA nach Afrika gingen, machten im Jahr 2016 rund 27 Millionen US-Dollar aus. Im gleichen Zeitraum entgingen diesen Ländern durch Steuerflucht und in weit geringerem Ausmaß durch kriminelle Aktivitäten und Korruption jährlich mindestens 30 bis 60 Milliarden US-Dollar. Wir empfehlen daher, dass die österreichische Bundesregierung unterschiedliche Politikbereiche, wie Agrar-, Steuer- und Handelspolitik so aufeinander abstimmt und gestaltet, dass sie entwicklungspolitische Ziele und Maßnahmen, wie sie in der Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung formuliert sind, unterstützen.

Ein finanzielles Austrocknen der Staaten des Globalen Südens wirkt sich am Ende auch auf Europa aus.

Vilim: Wenn man es gesamtgesellschaftlich sieht, sollte es in unserem Interesse sein, dass alle Menschen ein gutes Leben haben. In diesem Zusammenhang sind auch Flucht und Migration zu sehen: Wo Leben in sozialer Sicherheit und politischer Stabilität möglich ist, müssen sich weniger Menschen auf den Weg machen. Dann wird Migration zu einer Möglichkeit unter vielen, aber nicht zu einer Notwendigkeit. Auch hier gilt, jeder Euro vor Ort ist gut investiert.

Was bleibt zu tun?
Vilim: Es wurde bereits einiges erreicht. In den letzten Jahrzehnten konnten ein Milliarde Menschen aus der Armut befreit werden. Die Unterernährung ist von 15 auf 11 Prozent gesunken. Die Kindersterblichkeit konnte von 1990 bis 2015 halbiert werden. Die Liste ließe sich fortsetzen. Der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-Moon formulierte es sehr treffend: «Wir sind die erste Generation, die Armut beseitigen könnte.» Es liegt an uns, das zu verwirklichen. Dazu braucht es einerseits finanzielle Unterstützung. Andererseits müssen Regierungen Politikfelder wie Agrar-, Handels-, Steuer- und Rohstoffpolitik auf entwicklungspolitische Ziele abstimmen. Die Leistungen, die die Länder des Entwicklungsausschusses im Rahmen ihrer Entwicklungspolitik erbringen, werden alle 5 Jahre geprüft. Eine der Empfehlungen an Österreich bei der letzten Prüfung 2019 lautete, Beauftragte in den Ministerien einzusetzen, die sicherstellen, dass Politiken so aufeinander abgestimmt werden, dass sie den Zielen der EZA nicht zuwiderlaufen.
Es ist an der Zeit, dass Österreich die im Regierungsprogramm genannten Maßnahmen in der Entwicklungspolitik jetzt umsetzt. Das betrifft unter anderem die stufenweise Erhöhung der Mittel in Richtung 0,7 Prozent des BNE. Dass es darum geht, Menschen vor Ort Lebensperspektiven zu ermöglichen, sehen einige der Verantwortlichen leider noch zu wenig.