Die Enkel an der Handtun & lassen

Eine Reportage aus Bukarest

Eine Kindheit ohne Eltern erleben viele Kinder in Rumänien. Und zwar dann, wenn Mutter und Vater zum Arbeiten ins Ausland gehen müssen. In einer Schule in Bukarest versucht ein Sozialarbeiter die Lücken zu füllen, die Eltern hinterlassen.

Julia Slamanig (Text und Foto) hat ihn besucht.

Kinder laufen im großen Klassenraum herum. Manche springen von den Tischen, schreien, machen Kopfstand auf dem Teppich. Zwei Mädchen drücken Teddybären an sich. Ein Junge sitzt auf seinem Platz und beobachtet die anderen mit ernster Miene. Diese Kinder wachsen wie viele andere in Rumänien ohne Eltern auf. Immer mehr junge Erwachsene sehen sich dazu gezwungen, zum Arbeiten ins Ausland zu gehen – und müssen ihre Söhne und Töchter zurücklassen. «Es sind einige hunderttausend Kinder, aber weniger als eine Million», sagt die Soziologin Manuela Stanculescu. Niemand kenne konkrete Zahlen, denn in Rumänien gebe es keine Datenerfassung in diesem Bereich.

Leonardo Andreescu betritt den Klassenraum – ein großer Mann mit dunkelbraunen Augen und schwarzem Haar, im Nacken zu einem Zopf gebunden. Nachmittags und wochenends kümmert er sich als Sozialarbeiter um 20 Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren. Fast alle sitzen jetzt auf dem Teppich im Sitzkreis und spielen mit der Lehrerin ein Spiel, bei dem sie einander an den Händen halten. Andreescu setzt sich zu einem Jungen, der an seinem Platz geblieben ist und weint. «Manche Kinder sind traurig, fühlen sich schuldig und machen sich Vorwürfe, weil sie nicht verstehen, warum ihre Eltern weggegangen sind. Einige sind gewalttätig und agressiv, kämpfen um Aufmerksamkeit. Das Fehlen der Eltern macht sie unsicher», sagt der Sozialarbeiter.

Große Kluft.

Im letzten Jahrzehnt sind zwischen drei und vier Millionen Menschen aus Rumänien ausgewandert, um im Ausland zu arbeiten – deutlich mehr als aus anderen europäischen Ländern. «Der Hauptgrund ist Armut», sagt Victoria Stoiciu von der Friedrich-Ebert-Stiftung Rumänien. Rumänien und Bulgarien sind die EU-Länder mit dem niedrigsten Durchschnittseinkommen. Trotzdem wandern viel mehr Rumän_innen als Bulgar_innen aus. Das liegt laut Stoiciu an der großen Kluft zwischen den rumänischen Bevölkerungsschichten. «Die ärmsten Rumänen sind ärmer als die ärmsten Bulgaren», sagt sie, «wir haben ein paar wenige Menschen mit sehr hohem Einkommen und viele, die sehr wenig verdienen.» Ein Drittel der Erwerbstätigen in Rumänien sind Selbstständige und «Familienarbeiter_innen», die großteils in der Landwirtschaft arbeiten, und das bedeute ein Leben am Existenzminimum. Daraus ergeben sich zweieinhalb Millionen Rumän_innen, die nicht als arbeitslos eingestuft, aber extrem arm sind.

In einer der ärmsten Gegenden von Bukarest, dem Sector 5, liegt die Schule, an der Andreescu arbeitet. Familien leben in Wohnblöcken, die schon leerstanden, ohne Heizung, ohne fließendes Wasser. Die Bewohner_innen wühlen in Müllcontainern, in denen Menschen Kleidung wegwerfen, die sie selbst in einem Secondhand-Laden gekauft haben. In manchen Läden bezahlt man pro Kilogramm Kleidung umgerechnet drei Euro.

Flucht vor der Armut.

Junge Erwachsene fliehen vor der Armut in andere Länder und lassen ihre Kinder bei Verwandten zurück. «Nicht alle Großeltern, Onkel und Tanten sind glücklich, sich um die Kinder zu kümmern. Einige geben ihr Bestes, aber für manche ist es eine zusätzliche Last», sagt Andreescu. Aber im Gegenzug dafür schicken die Eltern Geld aus dem Ausland, ohne das viele Familien in Rumänien nicht überleben könnten. «Im Ausland verdienen Rumänen das Fünf- bis Zehnfache von dem, was sie zu Hause bekommen würden», sagt Soziologin Stancalescu. Wirtschaftlich gesehen ist dieser Geldzufluss aus dem Ausland die zweitwichtigste Geldquelle für Rumänien. Aber Stoicu von der Friedrich-Ebert-Stiftung warnt vor den langfristigen Auswirkungen: «Die Bevölkerung Rumäniens altert, und die Geburtenrate sinkt. Wer wird sich um die Alten kümmern? Wir haben kein adäquates Pensionssystem, keine adäquaten Sozialleistungen.» Stanculescu warnt vor den sozialen Kosten, die in die Höhe schießen werden, und vor einer schwierigen Generation, die heranwächst. «In Rumänien leben eine Million Kinder in Armut, und einige Hunderttausend werden von ihren Eltern zurückgelassen. Nach meiner Schätzung macht das die Hälfte der rumänischen Kinder aus. Was wird sich daraus für eine Generation entwickeln?»

Die häufigsten Zieldestinationen der Rumän_innen sind Italien, Spanien und Deutschland. Im Ausland arbeiten sie vorwiegend als Altenpfleger_innen oder in anderen Hilfsberufen im Gesundheits- und Pflegewesen, in der Landwirtschaft, auf Baustellen oder in Hotels und Restaurants. In Österreich waren 2017 laut Statistik Austria rund 48.500 Rumän_innen erwerbstätig. Wer hierzulande Sozialabgaben bezahlt, hat für seine oder ihre im Ausland lebenden Kinder folglich auch Anspruch auf Familienbeihilfe. Für ein Neugeborenes liegt der monatliche Betrag derzeit bei 114 Euro, für eine_n Zehnjährigen bei 141,50 Euro. Ab 1. Jänner 2019 werden diese Beträge zumindest für Kinder im östlichen EU-Ausland drastisch gekürzt. Die Bezugshöhe orientiert sich dann an den Lebenserhaltungskosten im Herkunftsland. Im Fall von Rumänien betrifft das rund 16.000 Kinder, deren Anspruch um etwa die Hälfte gekürzt wird. Für einen Zehnjährigen macht die Kürzung rund 800 Euro pro Jahr aus. In Rumänien entspricht diese Summe zwei durchschnittlichen Monatsgehältern.

Lücken füllen.

Zurück im Klassenraum. Es ist still. Die Kinder beugen sich an ihren Tischen über Styroporboxen, aus denen sie Nudeln mit Wurst und Sahnesoße essen – für viele die einzige warme Mahlzeit am Tag. Nach dem Essen machen sie ihre Hausaufgaben. Zuhause könnte ihnen dabei oft niemand helfen, weil einige Verwandte Analphabeten sind. Trotzdem unterstützen die meisten Familien, dass die Kinder in die Schule gehen. «Diese Einstellung hat sich sehr zum Positiven gewandelt. Nur wenige sind noch immer der Meinung, dass Schule nicht wichtig ist, sondern dass Kinder arbeiten müssen, um Essen zu bekommen», sagt Andreescu. Ein Junge ruft ihn zu sich und will wissen, ob er seine Mathematikaufgaben richtig gemacht hat. Dann lacht er und zeigt dem Sozialarbeiter, wie lange sein Kreisel sich dreht. Andreescu baut zu jedem Kind eine Beziehung auf. «Distanz zu bewahren, davon halte ich nichts. Die Kinder müssen fühlen, dass sie sich auf uns verlassen können, dass sich jemand um sie kümmert», sagt er. «Manche isolieren sich und schließen keine Freundschaften.» Bei sozialen Aktivitäten lernen die Kinder, wie sie mit Beziehungen zu anderen umgehen und sich bei Problemen verhalten. Spielerisch erfahren sie Wege, im Mittelpunkt zu stehen, ohne agressiv werden zu müssen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. «Wir versuchen die Lücken zu füllen, die die Eltern hinterlassen», sagt Andreescu.

Ein Bild aus Rumänien.

Eine alte Frau mit Kopftuch und Zahnlücken betritt den Klassenraum. Sie ruft drei Jungen zu sich – ihre Enkel Alex, Eugen und Florin. Die drei leben bei ihr, weil ihre beiden Töchter in Spanien und Griechenland arbeiten. «Die Mutter von Eugen und Alex ruft jeden Abend an und kommt im Oster- und Weihnachtsurlaub immer auf Besuch, aber Florin hat seine Mutter nicht mehr gesehen, seit er zwei ist», sagt Großmutter Mariana.

Sie kümmert sich gerne um ihre Enkel, sagt die Großmutter und drückt die drei an sich. Außerdem könne sie ohne das Geld von ihren Töchtern aus dem Ausland nicht überleben. «Damit kaufe ich Kleidung und Schulsachen für die Kinder. Mit dem, was überbleibt, haben wir das Dach repariert, eine Küche und ein Badezimmer gebaut und einen Ofen, eine Waschmaschine und einen Kühlschrank gekauft», erzählt Mariana und lacht.

Etwa ein Jahr bleiben die Jungen und Mädchen in der Betreuung von Andreescu – wenn notwendig, auch länger. «Erst wenn wir das Gefühl haben, dass es ihnen besser geht, geben wir den Platz einem neuen Kind. Dazu gehört, dass die Beziehungen zu anderen funktionieren, ihr emotionaler Zustand gut ist und dass das Umfeld zu Hause sich zum Positiven gewandelt hat», sagt der Sozialarbeiter. Dafür lädt er die Verwandten zu Aktivitäten ein. «Wir können die Kinder nicht ihr Leben lang begleiten, deswegen machen wir sie unabhängig und schaffen ein geeignetes Umfeld, damit die Unterstützung von zu Hause kommt.»

Großmutter Mariana nimmt ihre Enkel an die Hand, verabschiedet sich von Andreescu und geht mit den drei Jungen durch den Schulflur nach draußen: eine alte Frau mit drei Jungen. Ein Bild aus Rumänien.

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