Wiener Ausfahrten Nr. 148
Der Dozent traf Groll bei der Schnellbahnbrücke über die Brünner Straße. Groll hielt mit einem Fernstecher Ausschau nach einem Zug. Er sei auf der Suche nach der lichten Zukunft, den Doppelstockgarnituren mit Panoramafenstern, sagte Groll, die Frage seines Freundes vorwegnehmend.
Der Dozent war erstaunt. «Seit wann interessieren Sie sich für die Bahn? Ich dachte, Ihr Herz schlägt nur für die Schifffahrt?»Er habe sich immer schon für Räume in Bewegung interessiert, ob es nun Frachtkähne auf der Donau oder Triebwagengarnituren der Bundesbahn seien, erwiderte Groll. «Große stählerne Körper in Bewegung, und das noch zu günstigen ökologischen Werten, sind für mich eine stete Faszination. Ich habe mich immer für die Bahn interessiert, aber die Bahn interessierte sich leider nicht für mich.»
«Ich weiß», sagte der Dozent und stieg von seinem Rennrad ab. «Als Rollstuhlfahrer Zug zu fahren, war bis vor wenigen Jahren ein abenteuerliches Unterfangen.»
«Das ist es auch heute noch», entgegnete Groll.
«Erzählen Sie!» Der Dozent holte seinen Notizblock hervor.
Groll verstaute das Glas in seinem Rollstuhlnetz, verschränkte die Arme vor der Brust, sah den Dozent lange in die Augen und sagte ernst und bedeutungsschwer: «Neulich fuhr ich mit der Bahn nach Linz.»
«Oh», sagte der Dozent und erbleichte.
«Ich fuhr mit der Bahn nach Linz, und das mit dem modernsten, besten, barrierefreiesten Zug, den die ÖBB anbietet, dem Railjet.»
«Gott sei Dank.»
«Das dachte ich auch», sagte Groll. «Leider war die zuggebundene Hebeplattform außer Betrieb. Die Elektronik war defekt. Da die Hebeplattform für mich aber die einzige Möglichkeit darstellte, in die hohe Garnitur hineinzukommen, war guter Rat teuer. Der Zug, der bereits mit Verspätung aus Hegyeshalom gekommen war, sollte jeden Moment abfahren.»
«Aber doch nicht ohne Sie!», rief der Dozent erschrocken.
«Verehrter Dozent, ich kann Sie beruhigen. Im letzten Moment kam ein Bahnmitarbeiter mit einer mechanischen Hebeplattform angelaufen, in einer Minute war ich im Zug.»
Der Dozent nickt befriedigt und nahm eine Eintragung in seinem Notizbuch vor.
«Mit 200 Stundenkilometern durch das flache Land zu brausen, einen starken Espresso auf dem Tisch und die Herald Tribune auf den Knien, ist eine gute Fahrt zu reisen », fuhr Groll fort. «Kein Vergleich mit dem unbequemen Fliegen; man hat jede Menge Platz, genießt das sanfte Dahingleiten und erfreut sich an seinen Mitreisenden, in diesem Fall an einem jungen arabisch sprechenden Pärchen mit einem Kinderwagen samt krähendem Inhalt. Das Pärchen bestellte unentwegt Kleinigkeiten: einen Tee, noch einen Tee, eine Gulaschsuppe, noch eine und jedes Mal zahlte das Pärchen mit Kreditkarte. Der bewundernswerte Ober lief jedes Mal durch zwei Waggons, um die Kreditkartenmaschine zu bemühen und nie verlor er seine professionelle Höflichkeit. Ich war nahe dran, die kleinen Rechnungen des Pärchens bar zu bezahlen, um den armen Bistrokellner zu entlasten.»
«Vielleicht waren die beiden nicht gut bei Kasse», warf der Dozent ein.
«Das glaube ich nicht. Die jungen Herrschaften trugen teure Markenmode und der Mann spielte die ganze Zeit auf einem Laptop der letzten Generation. Wenn er sich nicht gerade darüber beschwerte, dass im Zug die Spiele der Fußballweltmeisterschaft nicht übertragen wurden. Aber da beschämte ihn der Zugbegleiter und teilte stolz das Endergebnis mit, welches er sich auf sein Mobiltelefon hatte schicken lassen. Überhaupt war die unaufdringliche Freundlichkeit der Mitarbeiter bemerkenswert. Dass die Sorge um das Wohl der Kunden allerdings so weit geht, den Gästen den Anblick von schmutzigen Hinterhöfen, trostlosen Feldern und deprimierenden Einfamilienhäusern durch die Anbringung kilometerlanger Betonwände zu ersparen, setzt dem zivilisatorischen Hochamt eine strahlende Krone auf.»
Leider müsse er Grolls Begeisterung dämpfen, sagte der Dozent. Was dieser beschreibe, seien keine ästhetischen Paravents sondern Lärmschutzwände.
Groll schüttelte den Kopf.
«Das ist unmöglich. Der Railjet macht keinen Lärm. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass er mit zunehmender Geschwindigkeit leiser wird und bei 200 km/h ist von ihm gar nichts mehr zu hören. Ich bleibe dabei: die Bahn sorgt sich neuerdings auch um das ästhetische Wohlbefinden ihrer Kunden.»
«Was für ein Unsinn», sagte der Dozent.
«Was für ein dramatischer Wandel der Unternehmensphilosophie», sagte Groll.