Die Freuden des NichtwissensDichter Innenteil

Herr Groll auf Reisen. 277. Folge

Groll hatte den Dozenten in den ersten Bezirk gebeten. Der traf pünktlich mit seiner italienischen Rennmaschine ein.

«Guten Tag, geschätzter Groll, was wollen Sie mir zeigen? Die Rückseite des Palais Batthyány? In diesem Häuserkomplex befindet sich die Ungarische Botschaft. Führen Geschäfte Sie nach Pannonien, legale oder illegale?»

Bild: Mario Lang

Mit diesen Worten stieg der Dozent ab und lehnte sein Rad an die Hausmauer.

Er habe in den siebziger Jahren in der ungarischen Botschaft sein Visum geholt, wenn er nach Visegrád zu seinen Freunden im Donauknie gefahren sei, meinte Groll. Das komme bald wieder, antwortete der Dozent. «Visapflicht, Zäune, Stacheldraht. Ein neuer eiserner Vorhang. Orbáns Paranoia wird nicht kleiner. Ich frage mich, wann er um Budapest einen Erdwall aufführen lässt.»

«Im Palais neben der Ungarischen Botschaft befindet sich der Presseclub Concordia, und das seit 1848», meinte Groll. «Sie könnten dort eine Pressekonferenz zum Thema geben.»

Er erinnere sich an eine Pressekonferenz im Jahr 1989, in der die Außenminister Gyula Horn und Alois Mock die Überwindung der Grenzen feierten, bemerkte der Dozent. «Ein Europa ohne Grenzen wird nicht mehr wiederkommen, nicht einmal in den EU-Staaten. Aber Sie haben mich nicht der traurigen Zukunft wegen ins Niemandsland des Regierungsviertels bestellt?»

«Es wäre besser, Sie nehmen das Rad an der Hand. Im Regierungsviertel weiß man nie, was als Nächstes geschieht. Denken Sie nur an die Flüchtlingsfrage. Und denken Sie an Grillparzers Satz: Der Weg der europäischen Politik geht von der Humanität durch die Nationalität zur Bestialität. Grillparzer hat ja im ersten Bezirk gewohnt, und es sind nur ein paar Schritte zu jenem Ministerium, dessen Leiterin dem Nazi-Begriff ‹Festung Europa› – er bezeichnete die vom Dritten Reich besetzten Teile Europas und wurde von Joseph Goebbels propagiert – zu neuen Ehren verhilft.»

«Natürlich hat sie das nicht gewusst. Und Ihre Spitzenbeamten auch nicht.»

«Natürlich.»

«Aber Ministerin Mikl-Leitner ist eine intelligente Frau.»

«Ihre Beamten sind auch keine Dummköpfe.»

«Sie meinen?»

«Ich meine nicht. Ich kombiniere. Denken Sie an Grillparzers Wort.»

Groll fuhr zur Seite, um einen Polizisten auf einem Fahrrad passieren zu lassen. Dann erzählte er eine Geschichte aus Innsbruck: «Bei der Angelobung der Bürgermeister in der Hofburg wurde ein Film gezeigt, der die Schönheiten des Landes mit der Fanfarenmusik aus Liszts Les Préludes unterlegte. Nun ist diese Musik aber historisch punziert, nach dem Überfall auf die Sowjetunion wurde sie in Radio und Wochenschau gesendet. ‹Wir bringen eine Sondermeldung der Wehrmacht›, sagte eine Stimme in metallener Härte. Liszt selber schrieb, die Drommete, also Trompete, rufe den Streitenden, um im Gedränge des Kampfes wieder zum ganzen Bewusstwerden seiner selbst und seiner Kraft zu kommen. Denn was anderes sei das Leben, als eine Abfolge von Präludien zu jenem Gesang, dessen erste und feierliche Note der Tod anstimme. Das Thema war auch als Siegesfanfare nach dem Triumph im Krieg vorgesehen.»

«Die Beamten der Tiroler Öffentlichkeitsarbeit haben das sicherlich nicht gewusst», meinte der Dozent sarkastisch.

«Ebensowenig wie jener Klagenfurter Theologe, der im Bachmann-Gymnasium die Schüler einen Text zu dem geflügelten Wort ‹Jedem das Seine› schreiben lässt und sich nur auf die alten Griechen bezieht», erwiderte Groll. «Und mit keinem Wort erwähnt, dass diese drei Worte groß über dem Eingang des KZ Buchenwald standen, aber nach innen gewandt, sodass die Todgeweihten auf dem Appellplatz Tag für Tag ihre Verhöhnung sahen.»

«Auch er wird es nicht gewusst haben», sagte der Dozent.

«Wie jener Kärntner Schulinspektor, der Exkursionen von Schulen nach Mauthausen ablehnte?»

«Hat wahrscheinlich auch nicht gewusst, worum es ging», merkte der Dozent in einem sarkastischen Ton an. «Wahrscheinlich dachte er, in Mauthausen würden landwirtschaftliche Messen abgehalten.»

«Holzmessen», korrigierte Groll. «Die allerdings findet jedes zweite Jahr in Klagenfurt statt, Schulklassen sind dort gern gesehen.»

Groll deutete auf den Eingang Schenkenstraße Nummer vier, zog den Dozenten zu sich und flüsterte: «Hier ist eine sinistre Organisation untergebracht, ein geheimes Machtzentren der österreichischen Politik, die ‹Verbindungsstelle der österreichischen Bundesländer›. Was ich Ihnen jetzt erzähle, wird noch dafür sorgen, dass Ihren Enkeln das Blut aus dem Gesicht weicht.»

«Um Gotteswillen! Ich höre», sagte der Dozent und hockte sich neben Groll.

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