«Die ganze Nacht»vorstadt

Lokalmatadorin

Katarina Staronova  ist eine von jenen stillen Betreuerinnen, die auf unsere Alten schauen. Von Uwe Mauch (Text) und Mario Lang (Foto)«Schwester! Schwester!» Sie hat die flehende Stimme noch immer im Ohr. Sie erinnert sich auch, dass sie müde war, abgekämpft, abgemagert, niedergeschlagen. Und dass sie sich fragte: Wird das Flehen im Nebenzimmer jemals verstummen? Nächtelang tat sie kein Auge zu. Nicht, weil sie nicht schlafen konnte, sondern weil die 94-jährige Frau, die sie in deren Wohnung betreute, wieder einmal nicht schlafen konnte. Immer wieder wurde sie ins Nebenzimmer zitiert. Dort wiederholte sich folgender Dialog:

– Ah, Schwester, da sind Sie ja. Wie spät ist es jetzt?

– Es ist jetzt halb acht. Aber bitte fragen Sie mich das nicht alle fünf Minuten.

Für Katarina Staronova war ihr erster Einsatz in Wien eine Qual: «Schwester, Schwester, so ging das die ganze Nacht.» Demenz erlaubt kein selbstbestimmtes Leben. Auch nicht für die Betreuerin, die rund um die Uhr abrufbereit sein muss.

Die Pflegerin aus der Slowakei erinnert sich auch an den Moment, als man sie der alten Dame vorgestellt hat: «Das war ein Schock für mich.» Die Wohnung war noch älter als ihre Eigentümerin, die Küche hatte auch schon bessere Zeiten erlebt, der Boden knarrte bei jedem Schritt, die Tapeten an der Wand waren ein Drama. «Alles war dreckig, vieles kaputt. Zwei Tage lang habe ich nur geputzt. Zwei Tage lange konnte ich nichts essen, weil mir so gegraust hat. Die ersten zwei Wochen habe ich nur geheult.»

Tagein, tagaus, zwei Wochen in einem fort, dann wurde sie von ihrer Kollegin abgelöst. Erlöst. Die 38-jährige Slowakin ist eine von 70.000 Frauen und wenigen Männern, die als 24-Stunden-Betreuer_innen in Österreich beschäftigt sind, unter teilweise unzumutbaren Bedingungen. Fast alle kommen aus dem Osten Europas. Mehr als die Hälfte aus der Slowakei, die anderen aus Rumänien, Ungarn, Bulgarien, Polen, Tschechien. Alle sind sie unentbehrlich. Wer sonst würde all die hilfsbedürftigen alten Menschen rund um die Uhr zu Hause betreuen und pflegen?

Jeden Morgen kochte Katarina eine Tasse schwarzen Tee, gab Honig dazu und bestrich zwei Semmelhälften mit Butter und Marillenmarmelade. Noch drei Tage! Rechnete sie oft. Bis zum Ende ihres Turnus.

Dann ertönte wieder das nervenaufreibende «Schwester! Schwester!» von der zu pflegenden Frau. Ihr Ruf wurde hörbar schroffer, wenn sie in die Windeln gemacht hatte. Und sie wurde bösartig, wenn sie nicht sofort erhört wurde. Natürlich war ihr kein Vorwurf zu machen, auch nicht dafür, dass sie ihre Beine kaum noch bewegen konnte. Aber das Windelwechseln wurde dadurch nicht einfacher.

Katarina Staronova ist eine, die anpacken kann, die nicht sofort aufgibt, wenn sich ihr ein Hindernis in den Weg stellt. Dennoch war sie oft den Tränen nahe. Anfangs wusste sie nicht, dass sie mit ihren Sorgen nicht alleine ist: «Ich habe in der Zwischenzeit einige Kolleginnen kennen gelernt. Die meisten klagen, dass sie an ihrem Job langsam zerbrechen. Man stieß sie so wie mich ohne Vorwarnung in extrem heikle Intimsphären. Die Kinder und Enkelkinder fragen nur, ob wir die Oma oder den Opa eh baden und ob wir ab und zu die Fingernägel schneiden. Sonst interessieren sie sich nicht sehr für ihre Alten. Für deren Wohlbefinden bezahlen sie ja uns.»

Doch die alten Leute spüren das natürlich, fühlen sich von ihren Kindern alleine gelassen. Ihre Bitterkeit können sie nur an den Betreuer_innen auslassen. «Öfters», beklagt Staronova, «müssen wir uns Sachen an den Kopf werfen lassen, die würden wir von den eigenen Eltern niemals dulden. Das belastet mich sehr.»

Sie arbeitet seit vier Jahren als Betreuerin in Wien. Eine unerwartete Autoreparatur hatte ihr knapp bemessenes Haushaltsbudget in Schieflage gebracht. «Da hat mir eine Nachbarin von ihrer Arbeit drüben in Österreich erzählt.» Nur auf den ersten Blick ein Rettungsanker: Bei einer der zwielichtigen Agenturen in der Slowakei, von denen es etliche gibt, buchte sie einen zweimonatigen Schnellsiedekurs. Nach der Prüfung, die sie mit Herzklopfen bestand, wurde ihr in einem Ehrfurcht gebietenden Büro sofort ein Vertrag vorgelegt. «Und ich habe unterschrieben, ohne das Kleingedruckte zu lesen.» Ein Fehler, wie sie heute weiß.

Im Kleingedruckten verstecken sich unter anderem Hinweise auf die Gebühren, und zwar jene, die sie an die Agentur zu entrichten hat: 70 Euro für die Bearbeitung, 430 Euro Jahresgebühr. (Weitere 500 Euro Jahresgebühr wollte dann auch die österreichische Agentur haben.) Und es findet sich auch das Wort Strafe: 16.596 Euro für den Fall, dass sie sich von einer anderen Agentur abwerben lässt oder ihre eigene Agentur gründet; 5000 Euro für den Fall, dass sie Interna ausplaudert.

«Das ist nicht gerechtfertigt», kritisiert die Betreuerin. «Die Agenturen organisieren dir meist nur den Fahrtendienst. Und wenn du ein Problem hast, erreichst du niemanden in ihrem Büro.»

Mit Kolleginnen hat Katarina Staronova daher einen gemeinnützigen Verein gegründet. Dieser bietet professionelle Beratung, hilft in allen beruflichen Belangen sowie bei der Vernetzung, und will Bewusstsein für deren Anliegen schaffen. Mehr Infos:

www.institut-personenbetreuung.at.

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