Die Generation Wirtschaftswundertun & lassen

Musa Firat: Einer der ersten Gastarbeiter Österreichs erzählt

Musa Firat wird am 15. April 1933 in der ostanatolischen Region Dersim/Dês?m, im Dörfchen Mezra Káy?í geboren. Am 10. April 1964 kommt er im Zuge des Anwerbeabkommens zwischen Türkei und Österreich als einer der ersten «Gastarbajteri» am Südbahnhof an. Das Abkommen wurde heuer 50 Jahre alt; Musa Firat 81. Seine Geschichte erzählt von jenen, die das «Wirtschaftswunder Österreich» ausmachten.

 

Foto: Josef Vorlaufer

Musa Firat ist der sechste Sohn einer bitterarmen, alevitischen Bergbauernfamilie. Seine Muttersprache ist Zaza, die von den meisten ihrer zwei bis drei Millionen Sprecher_innen (wenn auch nicht von den meisten Linguist_innen und Orientalist_innen) zur Familie der kurdischen Sprachen gezählt wird. Während des sogenannten kurdischen Dês?m-Aufstandes gegen die junge Türkische Republik, die das Gebiet mehr oder weniger gewaltsam türkisieren will, wird Musa Firat 1938 gemeinsam mit seiner Familie in den westlichen Teil der Türkei deportiert. Erst 1940 dürfen die Firats nach Dês?m, das inzwischen in «Tunceli» umbenannt worden ist, zurückkehren. In Dês?m, sagt Musa Firat heute, gab es nur Berge, keine Schule.

Ein wenig Lesen und Schreiben lernt Firat beim Militärdienst und später mit Hilfe von Zeitungen. Nach seiner Heirat betätigt sich Firat als Steinmaurer und Blasmusiker bei Hochzeiten. Doch es reicht hinten und vorne nicht. Daher verbringt er jedes Frühjahr, jeden Sommer drei, vier Monate als Saisonarbeiter in Istanbul.

Seine Frau wird schwanger. Als die Geburt seines ersten Kindes herannaht, regiert in dem bergigen Gebiet von Dês?m/Tunceli ein besonders strenger Winter mit Unmengen von Schnee. Auf einem selbstgebastelten, improvisierten Schlitten aus zwei Holzstangen und ein paar Decken schleppt Musa Firat seine in den Wehen liegende Gattin kilometerweit zur Hauptstraße, um dort ein Auto aufzuhalten, dass die Kreißende in das 80 (!) Kilometer entfernte Krankenhaus bringt. Eine Fehlgeburt ist die Folge der desaströsen Gesundheitsversorgung in dem gebirgigen, ländlichen Gebiet.

Wien lässt sich eine U-Bahn bauen …

Ich sitze in Musa Firats Wohnzimmer in seiner gepflegten Wohnung in St. Pölten – St. Georgen, trinke wunderbaren, starken Tee aus einem bauchigen Glas, genieße dazu die selbstgebackenen Shekerpare – und kann mir die schrecklichen Verhältnisse in seiner einstigen Heimat wohl nicht einmal annähernd vorstellen. Auch das zweite Kind ist unter den geschilderten Umständen eine Totgeburt, obwohl ein von ihm herbeigerufener Militärarzt aus der nächsten Kaserne Geburtshilfe leistet. In diesem Jahr, es ist 1958, beschließt Musa Firat, seiner Heimat den Rücken zu kehren und sich gemeinsam mit seiner Frau in Istanbul niederzulassen. Über Initiative eines älteren Bruders bewirbt er sich einige Jahre später für Gastarbeit in Österreich. Im Istanbuler Arbeitsamt wird er sowohl von einem österreichischen als auch einem türkischen Arzt untersucht, die vor allem die vorhandene Muskelkraft überprüfen.

Am 10. April 1964 kommt Musa Firat mit einigen Kollegen am Wiener Südbahnhof an. Die Gruppe wird mit großen Blumenkörben empfangen. Firat beginnt bei der Firma Rieserbau in Wien zu arbeiten. Das Unternehmen besorgt ihm auch eine Unterkunft, ein größeres Zimmer in der Zieglergasse, das er allerdings mit neun weiteren Gastarbeitern zu teilen hat. Als Maurer, als Maler, als Betonmischer wird er vor allem beim U-Bahn-Bau in Wien-Liesing, aber auch beim Autobahnbau eingesetzt.

… und St. Pölten ein Krankenhaus

1969 kommt Musa Firat nach St. Pölten und ist hier als Bauarbeiter tätig. In diesem Jahr gelingt es ihm auch, seine Frau und die beiden ältesten der mittlerweile drei Kinder nach Österreich nachkommen zu lassen. Firat ist einer von jenen, die mit ihrer Hände Arbeit das St. Pöltner Krankenhaus errichtet haben. Bis heute erinnert er sich daran gerne.

Musa Firat hat den größten Teil seines Lebens in Österreich verbracht. Wie sieht er, frage ich, dieses Land? «Ein schönes Land, das inzwischen längst meine zweite Heimat geworden ist. Die paar Leute, die mir im Laufe der Jahre und Jahrzehnte «Tschusch, geh nach Hause» gesagt haben, zählen für mich nicht. Ich habe all meine Kraft hier gelassen, nicht in der Türkei. Meine Kinder und Enkelkinder sind alle Österreicher, ich werde hier begraben werden, ich habe schon ein Grab», antwortet er mir. Um ein wenig nachdenklich hinzuzufügen: «Als ich hierher gekommen bin, hat man mich sehr freundlich empfangen. Heute ziehen sich die Leute eher zurück. Das Land wird kälter. Ich weiß nicht, woran das liegt.» Wenn er noch einmal 30 Jahre alt wäre und noch einmal vor der Auswanderung nach Österreich stünde, frage ich ihn, wie würde er sich heute entscheiden? In Istanbul wäre er nicht geblieben, antwortet er mir,

in den Bergen von Dês?m jedoch sehr gerne. Aber das sei damals einfach nicht möglich gewesen.

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