Eine kleine Augustin-Museologie: Folge 4 – Das Multatuli-Museum in Amsterdam
Bevor «Max Havelaar» ein Fair-Trade-Gütesiegel wurde, war es ein Roman. Der Autor Multatuli sagte damit seinen niederländischen Leser_innen schon im 19. Jahrhundert, was er vom Kolonialismus hielt: nämlich nichts. Lisa Bolyos ließ sich durch Multatulis Geburtshaus führen – und ist dabei beinahe die steilen Treppen runtergefallen. Fotografiert hat Piet Hermans von der Amsterdamer Straßenzeitung Z!Auf das Multatuli-Museum machte mich ein Freund aufmerksam, der in Amsterdam als Historiker tätig ist. Haben Sie schon einmal versucht, mit einem Historiker von einem Ort zum anderen zu kommen? Dann wissen Sie, dass das ein Unterfangen im Schneckentempo ist. An keiner Fassade, keiner Straßenecke, keinem Bootsanlegesteg kommt man vorbei, ohne ein Extrakt der letzten – im Fall von Amsterdam – vierhundert Jahre Stadtgeschichte serviert zu bekommen. Durchaus ein Luxus; man lässt sich völlig uninformiert am Bahnhof Amsterdam Centraal abholen und könnte, ist man am Zielort angelangt, bereits die Magistra in niederländischer Geschichte ablegen.
Eigentlich war ich aus ganz anderem Grund nach Amsterdam gefahren. Der Historiker aber bestand darauf, dass das Multatuli-Museum mit seinem Museumsguide ein Fall für den Augustin sei. Also machte ich mich entlang der Grachten und über die Brücken dieser seltsam pittoresken Stadt auf in den Korsjespoortsteeg zum Geburtshaus von Eduard Douwes Dekker, Pseudonym: Multatuli, dem Erfinder des Max Havelaar.
Amsterdam ist ein reiches Pflaster, und wie wir wissen, macht nicht das Arbeiten reich (nicht so reich!), sondern nur das Erben oder das Rauben. Nun, die Niederlande haben’s mit Letzterem versucht. Sie kolonisierten territorial und durch Handelsverträge, was dazu führte, dass sie Mitte des 17. Jahrhunderts rund die Hälfte des Welthandels bestimmten. Auch Indonesien war bis 1949 in niederländischer Hand. Knapp hundert Jahre vor der Unabhängigkeit schrieb Douwes Dekker mit «Max Havelaar» das niederländische Pendant zu «Onkel Tom’s Hütte».
Ein Leben auf See und eine sehr frühe WG
Ich habe mein Fahrrad gerade angeschlossen, da kommt Floris Meijsing die Gasse entlanggeeilt, sperrt die Tür auf, «Kommen Sie herein?», und die Tour geht schon los: Willkommen im Multatuli-Museum.
Eduard Douwes Dekker wurde im März 1820 hier geboren, zur Schule (die er nicht abschloss) ging er am Singel, sozusagen dem Ring unter den Grachten, wo unter anderem das schmalste Haus Amsterdams steht. Dabei ist schon das Multatuli-Museum so schmal und kurz, dass man reale Gefahr läuft, die engen, steilen Treppen hintüber zu fallen. Douwes Dekkers Vater war Kapitän (auf die Frage nach der Beschäftigung der Mutter meint der Guide nach kurzem Nachdenken: «Auch ihr Vater fuhr auf See»), Eduard folgte ihm und blieb auf Java, wo er Arbeit in der Kolonialverwaltung annahm. Auf einer großen Karte an der Wand des Museums zieht Meijsing mit dem Finger Linien von einer Insel zur anderen. Douwes Dekker wurde zwischen den Einsatzorten der niederländischen Verwaltung der «Dutch Indies» hin- und hergeschoben; verheiratet und Vater zweier Kinder, für die er und die Mutter, Tine Wijnbergen, finanziell ohnehin nicht allzu gut sorgen konnten, musste er krankheitsbedingt einen Aufenthalt in den Niederlanden einschieben, auf dem er sämtliche Ersparnisse wohl wegen Spielsucht ausgab. Als er drei Jahre später nach Lebak im Westen Javas zurückkam, geriet er in einen gröberen Konflikt mit dem niederländischen Kolonialsystem; er fand den Umgang des lokalen Regenten mit der Bevölkerung unerträglich und versuchte, gegen ihn anzukommen – was ihm misslang. Stattdessen folgte eine Versetzung, zwei Monate später legte er seinen Posten zurück und ging in die Niederlande. Ungeachtet dessen, muss man in den Heldenepos einwerfen, dass eine nunmehr alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern zurückblieb.
Wijnbergen lebte mit Sohn und Tochter eine Weile auf Java, später in Italien, bevor sie in den 1860ern noch einmal mit Douwes Dekker zusammenzog – und mit seiner neuen Freundin Mimi Hamminck-Schepel; letztere hatte nämlich ihr Erbe in eine Immobilie investiert. Diese Triade kann man als Not deuten, aus der Wijnbergen eine Tugend machte, oder als weiteres Signal dafür, dass sich niemand um Konventionen scherte; als Wohngemeinschaft, lange bevor sie modern wurde.
Buße im Wandschrank
1843 verwendete Douwes Dekker zum ersten Mal das Pseudonym Multatuli (was, ein wenig wehleidig, aus dem Lateinischen kommt: «Ich habe viel gelitten») – er publizierte ein Theaterstück, das ihm keinen Ruhm einbrachte. Einen Erfolg landete er erst mit dem Roman «Max Havelaar oder die Kaffeeversteigerungen der Niederländischen Handels-Gesellschaft», in dem er nicht nur mit der kolonialen Verwaltung der Niederlande abrechnet, sondern mit der gesamten Idee des Kolonialismus und mit dem Rassismus, auf dem er notgedrungen beruht. Multatuli schreibt darin von der Ausbeutung der Arbeiter_innen und dem Raub natürlicher Ressourcen – aber er schreibt auch davon, wie unsinnig es ist, einer alten Person nicht beim Aussteigen aus der Kutsche zu helfen, nur weil sie nicht weiß ist. Das muss 1860 ganz schön wehgetan haben.
Der niederländische Herausgeber Jacob van Lennep war Douwes Dekker keine große Freude – zwar half er ihm, das Buch auf den Markt zu bringen, doch nur unter der Bedingung, dass real names gestrichen würden. Für diese Zensur muss van Lenneps Büste büßen, sie steckt im Museum in einem unscheinbaren Wandschränkchen, das Floris Meijsing spitzbübisch einen kurzen Moment lang aufmacht, um van Lennep dann wieder die Tür vor der Nase zuzuknallen. An der gegenüberliegenden Wand sind Erstausgaben in allen Sprachen aufgereiht: 1875 wurde ins Deutsche, 1927 ins Russische übersetzt und 1942 ins Japanische – das vielleicht nicht ganz zufällig, denn es war das Jahr, in dem Japan die «Dutch Indies» besetzte, und da kam das große Werk über die niederländischen Schweinereien gerade recht. Auch in Jakarta kam «Max Havelaar» auf den Buchmarkt – im Jahr 1972.
Aber auch wenn «Max Havelaar» heute Schullektüre ist und die zweite, dritte Generation aus den Ex-Kolonien an den niederländischen Universitäten studiert – dass der Kolonialismus wirklich Thema wäre, das Gefühl hat Floris Meijsing nicht.
Eine Watsche im Theater und ein Ende am Rhein
Im ersten Stock am Korsjespoortsteeg Nummer 20 stehen Couchen, Tische und Bücherschränke aus Douwes Dekkers Besitz. Porträts zeigen den Autor mit einem Hipsterbart, dass selbst der Austrofred blass würde vor Neid. Auf einem Bild ist ein Haus am Rhein (das heutige Landhotel Multatuli) verewigt, das, wie im Märchen, ein reicher Gönner dem verarmten Autor schenkte (wohlgemerkt das Haus, nicht das Bild). Im Keller des Museums darf ich hinter einer verschlossenen Türe einen Blick ins Archiv werfen: Alles, was von und über Multatuli publiziert wurde, lehnt hier im Regal. Douwes Dekker hat mit seinen Büchern – er schrieb noch eine ganze Reihe davon – nicht so schlecht verdient; aber die Spielsucht war nicht zu überwinden. In Wiesbaden, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbrachte, schrieb er mit den «Millionenstudien» boshafte Porträts von Rouletteprofis, Spielsüchtigen und Betrüger_innen. Kritikfähig dürfte Douwes Dekker übrigens nicht gewesen sein: Nach Deutschland war er laut Meijsing geflohen, weil er partout nicht in den Häfen wollte, nachdem er einem Kritiker seines Theaterstückes statt einer Antwort eine Gerade ins Gesicht gegeben hatte.
Multatuli Museum
www.multatuli-museum.nl
Korsjespoortsteeg 20
1015 AR Amsterdam
Piet Hermans ist freischaffender Fotojournalist in den Niederlanden. Seit 15 Jahren arbeitet er als Fotograf, Autor und Redaktionsmitglied bei der Amsterdamer Straßenzeitung Z!