Die Geschichte von den Arbeiter_innen, die zu ihrer eigenen Gewerkschaft wurdenArtistin

Italien: Eine Industrienation stirbt aus, ihr Arbeiterkino lebt hoch!

Mailand, Industriegebiet: Eine weitere Fabrik soll zugesperrt werden. Die Arbeiter_innen kämpfen fünfzehn Monate und acht Tage um ihren Erhalt. Zuerst mit Selbstverwaltung des Betriebes, dann mit Belagerung der Straßen, zuletzt mit der Besetzung von vier Kränen. Was gilt es zu gewinnen? «Entfremdete Arbeit», sagen die Filmschaffenden Silvia Luzi und Luca Bellino, aber auch die gelte es in bestimmten Momenten zu verteidigen. Luzi und Bellino haben in «Dell’arte della guerra» den Kampf bei INNSE porträtiert – das Resultat ist modernes Arbeiterkino. Am 1. März zeigen sie ihren Film im Wiener «Depot». Von Lisa Bolyos (Interview) und Carolina Frank (Fotos)Sind Arbeitskämpfe ein großes Thema in Italien?

Luca Bellino: Alles ist voll von Arbeitskämpfen, auch wenn sie sich in den Strategien jeweils unterscheiden. Italien war nach Deutschland die zweitgrößte Industrienation Europas. Jetzt ist das Ende der industriellen Ära evident, jeden Tag sperrt eine Fabrik zu. Die ganze Produktion wird ausgelagert.

Silvia Luzi: Wir dürfen in Hinblick auf die Fabriken nicht nur von den einzelnen Bossen sprechen, die an ihrem Ende beteiligt sind, sondern auch von dem politischen Willen, der dahintersteckt: der Wille der Troika, der Europäischen Union. Da werden Machtfragen gestellt.

Wie ist «Dell’arte della guerra» entstanden?

Luzi: Ich habe im August 2009 eine kleine Notiz in den Onlinenachrichten gelesen: In Mailand sind vier Arbeiter auf zwanzig Meter hohe Kräne geklettert. Und sie sagen, wir bringen uns um, wenn sich kein neuer Besitzer für die Fabrik findet. Diese Art von Arbeitskampf war neu.

Bellino: Silvia hat mir das vorgelesen, und zehn Stunden später waren wir am Weg nach Mailand. Wir kommen dort an, und niemand weiß von nichts. Dabei hatte der Kampf fünfzehn Monate vorher begonnen!

Es gab keine Medienöffentlichkeit?

Luzi: Überhaupt keine. Weil bis dahin diese krasse Geste gefehlt hatte – also war es nur ein einfacher Arbeitskampf, nicht weiter interessant.

Bellino: Ein einfacher Arbeitskampf heißt, die Arbeiter_innen haben beschlossen, alleine zu kämpfen, ohne Gewerkschaften, ohne politische Parteien. Zum allerersten Mal.

Wie hat es vor Ort ausgesehen, als ihr angekommen seid?

Luzi: Es war wie ein Theater, wie eine große Bühne. Da war die Fabrik, umstellt von Polizei, Militär und der Einheit zur Terrorbekämpfung – alles wegen der Arbeiter_innen. Und in der Mitte der Straße das sogenannte «Präsidium».

Bellino: Die Straße war zu. Autos konnten nicht durch. Leute fuhren vorbei, sie waren am Weg zum Meer und sagten: Was passiert hier? Ein Protest? O. k., wir bleiben. Du musst bedenken, August ist in Italien Urlaubsmonat. Niemand bleibt in Mailand.

Wieso ging der Protest ausgerechnet im August in so eine heiße Phase, die doch Unterstützung braucht?

Luzi: Die Arbeiter_innen sahen eine Deadline kommen. Sie hatten fünfzehn Monate protestiert, und niemand hat sie beachtet. Aber diese Monate hindurch hatten sie die Fabrik unter Kontrolle gehabt. Sie kannten die unterirdischen Zugänge und konnten so darauf schauen, dass die Maschinen intakt bleiben. Am 5. August kamen sie wieder in die Fabrik und sahen, dass der Besitzer andere Arbeiter geschickt hatte, um die Maschinen abzubauen. Sie wussten, sobald die Maschinen abgebaut sind, ist das das Ende der Geschichte dieser Fabrik. Sie gingen also rauf auf die Kräne, und niemand wusste, wie lange sie da bleiben müssten.

Bellino: Zusätzlich war es sehr heiß, 40 Grad, Gelsen, vier Quadratmeter pro Person. Die Polizei stellte den Strom ab, sodass sie nicht einmal ihre Handys aufladen konnten. Und wir reden hier nicht von jungen Leuten: Weder die vier oben noch alle anderen unten waren jung.

Und Ihr zwei wurdet einfach so akzeptiert?

Luzi: Im Gegenteil. Wir haben darum gekämpft, dabei sein zu dürfen, denn die erste Reaktion war: Ihr seid keine Arbeiter_innen. Erst nach einiger Zeit, als sie bemerkten, dass wir Tag und Nacht bei ihnen bleiben, sagten sie: O. k., wir reden mit euch. So begannen wir, Beziehungen aufzubauen. Und nach einer Weile konnten wir filmen. Aber wen wir ja immer noch nicht kannten, waren die vier da oben – und du kannst dir vorstellen, das waren die stärksten Charaktere.

Bellino: Wir konnten eine Menge Dinge austauschen. Wir haben ihnen Filme gezeigt, sie haben uns Bücher zu lesen gegeben, es war toll. Aber es war auch ein Kampf, ein Krieg (lacht).

Luzi: Bis sie zum Schluss sagen: O. k., machen wir also diesen bescheuerten Film.

Bellino: Letztendlich gab es sehr lustige Momente beim Dreh: Sie haben unser Set betrachtet und gesagt: Das ist ja wie eine Fabrik, ihr habt Hierarchien, alle haben ihre Rollen, ihr arbeitet mit den Händen, die Arbeit ist schwer, und ihr steht um fünf in der Früh auf.

Luzi: Schau an, ihr arbeitet ja auch!

Das Wort «Krieg» kommt ziemlich häufig vor – die vier im Film verwenden es mehrfach sehr selbstbewusst für ihren Arbeitskampf.

Bellino: Eine sehr zentrale Sache, die uns abgeht – überall in der Welt und gerade auch in Europa -, ist die Konzeption von Konflikten. Wir haben nicht nur die Worte dafür verloren, sondern auch die Vorstellung davon. «Krieg» steht symbolisch dafür, dass du deine Ideen verteidigst.

Luzi: Wir haben aber viel über dieses Wort diskutiert. Schließlich gibt es, während wir vom symbolischen Krieg sprechen, anderswo auf der Welt reale Kriege. Es war also auch eine ethische Frage. «Die Kunst des Krieges» («L’arte della guerra») ist letztendlich ein ästhetisches Konzept. Und wir haben versucht, das auch filmisch differenziert darzustellen, die heißen und die kalten Phasen.

Wie kann es sein, dass bei den Protesten vor der Fabrik keine Gewerkschafts- oder Parteiflaggen auftauchen?

Luzi: Die Arbeiter_innen haben sie verscheucht. Alle haben ihr Glück versucht, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen. Als wir zu filmen begonnen haben, wollte ständig wer in die Kamera winken, der Gewerkschaftssekretär, der Parteisekretär: Ciao, Mamma! Wir haben das alles rausgeschnitten.

Woher nehmen die Arbeiter_innen das Selbstbewusstsein, alle Unterstützung abzulehnen?

Luzi: Weil sie dreißig Jahre Kampf hinter sich haben, das hat sie gestärkt. Sie blicken nicht auf die acht Tage zurück oder auf die fünfzehn Monate, sondern auf eine ganze Tradition. Ihre gute Ausbildung haben sie weder in der Schule noch an der Uni genossen, sondern in der sozialen Auseinandersetzung. Dort haben sie gelernt, für ihre Rechte zu kämpfen.

Bellino: Die vier Arbeiter, die wir porträtieren, kommen aus vier verschiedenen Schulen.

Luzi: Der eine ist Marxist – danach war Marx in Italien eine Weile auf allen Zeitungscovers! Der zweite war früher kein Aktivist, aber dass die Fabrik, in der er davor war, zugesperrt wurde, hat ihn politisiert. Der dritte war Anarchist – durch und durch. Und der vierte so katholisch, dass du es dir gar nicht vorstellen kannst. Alle vier zwanzig Meter über der Erde.

Fünfzehn Monate Arbeitskampf, das kann kein Zuckerschlecken sein.

Luzi: Das ist die eigentlich wichtige Zeit: die fünfzehn Monate. Nicht die Tage am Kran. Sie mussten all die Zeit zusammenhalten, ohne Einkommen, ohne Arbeitslosenversicherung.

Bellino: Die haben sie abgelehnt, denn es war klar: Wenn sie akzeptieren, dass sie arbeitslos sind, ist es vorbei mit ihrer Fabrik.

Luzi: Nicht zu vergessen ihre Familien. Die Frauen, die Freundinnen, die Partnerinnen kommen kaum vor in den Bildern des Films, aber sie waren ebenso da. Sie haben die Familien erhalten, sich um die Kinder gekümmert, geschaut, woher sie das Geld für die Miete nehmen. Fünfzehn Monate überbrückt man nicht einfach mal so. Teilweise waren die Arbeiter_innen in der Fabrik für das ganze Familieneinkommen verantwortlich.

Bei der Geschichte Italiens denkt man an starke Verbindungen zwischen Intellektuellen und Industriearbeiter_innen.

Bellino: Das stimmt für die Siebzigerjahre. Heute sitzt Toni Negri in Frankreich und schreibt Bestseller.

Euer Projekt ist also die Ausnahme?

Luzi: Wir sind keine Intellektuellen, wir machen Kunsthandwerk.

Bellino: Ich kann dir eine Definition von Intellektuellen geben: Das sind Leute, die von ihren Familien so viel Geld bekommen, dass sie nicht arbeiten müssen (lacht).

Wie sieht es mit den Student_innen aus?

Bellino: Es gibt nicht mehr dieses organische Konzept vom gemeinsamen Kampf zwischen Student_innen, Intellektuellen und Arbeiter_innen. Diese Zeit wurde in den 1980er Jahren vom Terrorismus brutal unterbrochen, und was danach kam, war die Zeit des Fernsehens.

Luzi: Du musst wissen, dass die heutigen Student_innen Kinder der Ära Berlusconi sind.

Was kann ich mir darunter vorstellen?

Bellino: Das Ende der «alten Zeit» fiel zusammen mit dem sogenannten «historischen Kompromiss» zwischen der Kommunistischen Partei und der Democrazia Cristiana. Danach hat sich eine Leere aufgetan – und im selben Jahr kam der erste Fernsehsender von Berlusconi auf den Markt: 1978, in dem Jahr, in dem ich geboren bin.

Luzi: Die Kultur, mit der wir aufgewachsen sind, nennen wir «Milano da bere», Milano zum Trinken. Campari time! Yes, we can, alles kein Problem, gib mir deine Businesscard, mach dir keine Sorgen. Keine Orte der Auseinandersetzung mehr, keine Orte, um sich zu treffen, sich zusammenzutun. Und gleichzeitig endlos viel Scheiß im Fernsehen anschauen – und ich rede nicht von Spielfilmen und Serien, ich rede vor allem von Nachrichten. Zur selben Zeit hat sich, wenig überraschend, das gesamte Bildungssystem verändert. Die Kultur der Bewegungen an Schulen und Universitäten ist ausgestorben. Es gab nur einen einzigen Moment, wo es danach aussah, dass wir uns das zurückholen: Der G8 in Genua. Das war der Moment, in dem alle zusammenkamen, um sich gemeinsam zu organisieren. Und sie haben uns mundtot gemacht: Einen haben sie tatsächlich ermordet, und der Rest hatte eine Riesenangst. Wir waren darauf nicht vorbereitet.

Bellino: In diesen letzten zwanzig Jahren hat begonnen, was wir den historischen Revisionismus nennen. Die ganze Geschichte wird revidiert. Aber zur selben Zeit entstehen paradoxer Weise Freiräume für etwas Neues.

Ihr seid also nicht pessimistisch?

Luzi: Nein. Wir meckern viel. (lacht) Aber pessimistisch sind wir nicht.

Info:

Filmscreening mit Silvia Luzi & Luca Bellino

1. März, 19 Uhr, Depot

Breite Gasse 3, 1070 Wien, www.depot.or.at