Die Gesundheitspflicht: Verhältnisvergessentun & lassen

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Steige ich im ärmsten 15. Wiener Gemeindebezirk in die U-Bahn und im noblen 1.Bezirk am Stephansplatz wieder aus, dann liegen dazwischen 4 Minuten Fahrzeit – aber auch 4 Jahre an Lebenserwartung der jeweiligen Wohnbevölkerung.Die Unterschiede in den gesundheitlichen Belastungen (Schimmlige Wohnung, belastende Arbeit, Prekarität, Luft-und Lärmbelastung, Stress) wie auch die Unterschiede in den Bewältigungsressourcen (Handlungsspielräume, Anerkennung, soziale Netzwerke, Bildung) wiegen schwerer als die Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung (Krankenversicherung, Selbstbehalte, Wartezeiten, Fachärzt_innen) – und sind mit den Unterschieden im Gesundheits/Krankheitsverhalten (Ernährung, Bewegung) tief verwoben. Gesundheitsförderung ohne soziales Feld ist genauso blind wie sozialer Ausgleich ohne den Blick auf das Handeln von Personen. Gesundheitsförderndes Verhalten ist am besten in gesundheitsfördernden Verhältnissen erreichbar.

Wenn aber Vorschläge zur Gesundheitsförderung kommen, dann immer einzig beim Lebensstil. Da sollte man eine Regel einführen: Für jeden Vorschlag, den jemand beim Verhalten macht , muss er einen zur Reduzierung schlechter Wohnungen und krankmachender Arbeit machen, einen zum Abbau von Barrieren im Gesundheitssystem und einen zur Stärkung der persönlichen Ressourcen. Die aktuelle Debatte ist verhaltensversessen und verhältnisvergessen. Heraus kommt dann eine Ideologie „Pflicht zur Gesundheit“, nach dem Motto „wer früher stirbt, ist selber schuld“.

Das dominierende Lebensstilkonzept allein ist nicht geeignet, die Unterschiede im Krankheitsrisiko zu vermindern. Die verhaltensorientierten Gesundheitskampagnen allein greifen nicht. Man muss die Funktion des Verhaltens verstehen. In Industrieländern mit geringeren Unterschieden zwischen Arm und Reich tendieren die Menschen weniger zu Übergewicht. Dort, wo weniger Dauerstress, Angst vor sozialem Abstieg und prekäre Lebensverhältnisse herrschen, ist auch das Adipositas-Risiko geringer. Chronischer Stress und depressive Verstimmungen spielen eine bedeutende Rolle im Essverhalten. Menschen in Stresssituationen essen deutlich mehr Süßes. Dieses Phänomen ist als „eating for comfort“ bekannt. Das wirkt kurzfristig angst- und stresslösend. Im selben Ausmaß verschafft es angenehme Gefühle. Ein weiterer entscheidender Faktor für Übergewicht ist Stress während der Schwangerschaft. Stress bei Mutter und im Babybauch führt zu Kindern mit Untergewicht und unbalanciertem Trink- und Essverhalten. Auch in ihrem zukünftigen Leben. Hier werden für das weitere Gesundheitshandeln wieder die schlechten Startchancen schlagend.

Der Rückgang der Infektionskrankheiten war eine Folge der sozialen und ökonomischen Verbesserung der Lebenssituation der breiten Bevölkerung. Mehr als 90% der verminderten Todesrate bei Tuberkulose erfolgte bevor Impfungen verfügbar waren. Die Typhus-Sterblichkeit in Berlin wurde am stärksten durch die Eröffnung der Wasserleitung 1857 und die Fertigstellung der Kanalisation 1876 reduziert. Die renommierte „Globe-Studie“ ermittelte den hohen Anteil, den die Verhältnisse an den gesundheitlichen Unterschieden haben: über 50% werden durch soziale und umweltbedingte Belastungen erklärt. Arme Raucher_innen sterben früher als reiche Raucher_innen.

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